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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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war wichtig, den rechten Glauben zu verbreiten. Wido sah mit Schrecken, was aus dem einst so lebensfrohen, kraftstrotzenden Landgrafen geworden war. Was war nur mit seiner Seele geschehen?
    Jetzt regte sich der Kranke. Seine Finger zuckten, und dann fuhr er plötzlich mit einem Ruck hoch, die Arme wie zur Abwehr vorgestreckt und die Augen weit aufgerissen. »Weg, weg!«, schrie er. »Lass ab, du Scheusal, o Gott, Erbarmen!« Seine Hände wischten über seine Brust, als wollten sie etwas fortschieben, und er verkroch sich immer tiefer in seinen Sessel.
    Wido sprang auf und fasste Hermann an beiden Schultern. »Ruhig«, sagte er, »ruhig. Ihr braucht keine Angst zu haben, ich bin’s, Meister Wido.«
    Der verschleierte Blick des Landgrafen wurde mit einem Mal wieder klar. Erkennen flackerte in seinen Augen. »Der große graue Vogel«, keuchte er, »er kommt hereingeflogen und hackt seinen Schnabel in mein Herz. O Himmel, Meister Wido, helft mir.«
    Wido strich ihm beruhigend übers Haar, und nach einer Weile entspannte sich der Landgraf. »Meister«, flüsterte er rau, »ich bin in der Hölle … Ein Dämon wohnt in mir … er steckt hier drin, hier in meinem Kopf. Hierhin und dorthin kriecht er, wie ein Wurm durchwühlt er mein Hirn … Manchmal sitzt er in meinem Ohr und flüstert mir Dinge ein, manchmal hockt er im Nacken, und ich spüre, wie er sich windet und ringelt. Dann wieder bohrt er sich in meine Augäpfel und lässt mich Dinge sehen … ah, Ihr könnt Euch nicht vorstellen! Er frisst sich an der Stirn entlang und verursacht mir unendliche Pein, bis ich mit dem Kopf gegen die Wand schlagen muss, um ihn zu vertreiben … Ich weiß nicht mehr, wer ich bin … Sie sagen, ich sei irre, und sie haben recht … O Gott, meinen eigenen Sohn hätte ich fast umgebracht, mit diesen Händen.« Er starrte seine erhobenen Hände an, deren kleine Finger in einem unnatürlichen Winkel abstanden, seit Raimund von Kaulberg sie gebrochen hatte.
    »Ich bin kein Arzt, Liebden. Ich kann Euch nur den Trost der Seele bringen, nicht die Gesundung Eures Leibes.« Wido war erschüttert angesichts dieser Verzweiflung.
    »Mein Medicus sagt, er kann mir nicht helfen.« Hermann sprach stockend weiter. »Keine Medizin hat angeschlagen … Entweder der Wahn hält mich umfangen oder, wenn ich wieder klar denken kann, die Melancholei … So wie jetzt … Es wird mit jedem Tag unerträglicher … Diese furchtbaren Träume … Ich bin eine Gefahr für die anderen, sie kommen nur zu dritt oder zu viert, sogar wenn sie mir nur den Nachtscherben ausleeren wollen. Wenn der Dämon in meinem Kopf die Oberhand gewinnt, binden sie mich fest … Danach bin ich hilflos wie ein Kind, ich … ich beschmutze mich selbst, muss gewaschen und gefüttert werden. Keine Würde, nur noch Scham und Elend … Sie geben mir nur mehr einen Löffel zum Essen, weil ich versucht habe, mir das Messer ins Herz zu stoßen …« Hermann sah Wido in die Augen. »Ihr wusstet, dass ich Euch für den letzten Weg brauche, nicht wahr?«
    Der Perfectus nickte. »Deshalb bin ich gekommen.«
    Da hob der Landgraf den Kopf und straffte den Rücken. Etwas von seiner alten Kraft und Entschlossenheit war plötzlich wieder zu spüren. Seine Stimme war klar und fest, als er sagte: »Meister, ich bitte Euch um das Consolamentum.«
    »Ihr wollt die Endura auf Euch nehmen?«, fragte Wido ruhig.
    Hermann schloss die Augen. »Ich habe keinen anderen Wunsch mehr auf der Welt, als zu sterben.«
    »Ihr wisst, dass Ihr nach dem Segen keine Speise mehr zu Euch nehmen dürft? Denn Ihr seid dann rein wie ein Engel – alles Irdische, das Ihr in Euch aufnehmen würdet, würde diese Reinheit wieder zunichte machen.«
    »Aber meine Seele wäre befreit und flöge in den Himmel …«
    »Ja, ihre Erdenwanderung durch Mensch und Tier, durch unreine und böse Körper, wäre dann beendet.«
    Hermann tat einen tiefen Atemzug. Dann ging er vor Wido auf die Knie, die Hände zum Gebet gefaltet. »Gebt mir Euren Segen, Meister!«
     
    »Er verhungert!« Sophia schrie es fast. Sie hatte das Gesinde fortgeschickt und stand jetzt mit Ludwig allein vor dem Kamin in der Wohnstube.
    Ludwig nickte. »Es ist die Endura, Mutter. Nach dem Consolamentum darf er nichts mehr essen, sonst würde er das Böse in der Welt wieder in sich aufnehmen.«
    »Ihr seid alle verrückt, wenn ihr an so etwas glaubt! Verrückt!«
    Ludwig ließ die Schultern hängen. »Ich weiß nicht mehr, woran ich glauben soll,

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