Die Tore des Himmels
und heißt Ludwig, sagt der Vogt, und wir müssen ihn verehren und ihm treu dienen und immer redlich unsere Abgaben zahlen, auch den Zehnten an die Mutter Kirche. Na, wenn’s sein muss.
Heute pflügen wir, und weil wir kein Pferd haben, keinen Ochsen und keine Kuh, muss die Mutter die Pflugschar ziehen, zusammen mit dem schieläugigen Johannes, der in Stregda im Tropfhäuschen wohnt. Das ist ein Häuschen für die ganz Armen. Der Johannes hilft bei den Bauern für Essen, und heute hilft er uns. Er und Mutter krümmen sich und buckeln und ziehen, und der Vater drückt die eiserne Schar in den Boden. Das ist eine harte Arbeit, und ich schaue vom Rand des Ackers aus zu, wie alle schwitzen.
Drüben von Eisenach her kommen Leute geritten. Es müssen feine Leute sein, denn schon von fern sieht man ihre bunten Kleider. Und wirklich, es sind welche vom Hof! Die Eltern und Johannes kommen zu mir herüber und stellen sich am Ackerrand auf. Und da reiten die Hofleute auch schon vorbei; es sind lauter schöne Menschen wie im Märchen, und ihre Pferde sehen ganz anders aus als die grobknochigen Bauerngäule, die ich kenne. Zwei Hunde sind auch dabei, keine struppigen Läuseköter, sondern hübsch braunweiß gescheckte mit Halsbändern und glänzendem Fell. Die Frauen sitzen ganz merkwürdig auf ihren Pferden, mit beiden Beinen auf einer Seite, und ihre Kleider hängen fast bis zum Boden herunter. Mein Vater und der Johannes ziehen ihre Kappen und verbeugen sich, Mutter macht einen Knicks. Ich mache gar nichts, außer dass ich mit offenem Mund da stehe, denn inmitten der Hofleute sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Wunder: Auf einem weißen Pferd sitzt ein Wesen in einem noch weißeren Kleid. Es hat ganz langes flachsfarbenes Haar und einen glänzenden Reif darüber. Das Wesen ist so schön, so strahlend schön, dass ich schlucken muss und gar nicht mehr wegschauen kann. O Himmel! Das gibt’s doch nicht! Das muss er sein: mein Engel! Es ist wirklich so, wie die Frau in Eisenach mir geweissagt hat! Der Pfarrer hat erzählt, dass Engel genau so aussehen und dass sie immer Harfe spielen und frohlocken. Mein Engel hat keine Harfe, ich wüsste auch gar nicht, wie eine aussieht, aber er frohlockt, denn beim Vorbeireiten lächelt er mich an. Du Heiland, es ist mir wie im Märchen. So etwas Wunderbares habe ich noch nie gesehen. Ich bin so überwältigt, dass ich gar nichts sagen kann.
»Die da droben machen einen Maiausflug«, brummt Vater, »so gut möcht ich’s auch haben.« Der Johannes nickt, und die Mutter seufzt.
Die Großen begeben sich wieder an die Arbeit, und ich schaue den Hofleuten voller Staunen nach. Sie reiten bis zum Waldrand, dorthin, wo die Birken stehen und die Wiese sattgrün ist und der kleine Bach plätschert. Dann steigen sie ab und lassen sich im Gras nieder.
Ich weiß, dass ich eigentlich bei Michel bleiben und aufpassen soll, aber ich muss unbedingt meinen Engel noch einmal anschauen, anders halt ich’s nicht aus. Also renne ich hin, so geschwind ich kann, aber hinten herum, durch den Wald. Ich schleiche an die Leute heran, bis zu einem Gebüsch, in dem ich mich verstecken kann.
Sie haben Laken ausgebreitet, auf denen sitzen sie und unterhalten sich. Und sie essen und trinken. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Sie haben Körbe voll guter Sachen mitgebracht, gebratene Hühnchen, Käse, Würste und einen Haufen Zeug, das ich nicht kenne. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich weißes Brot! Fast vergesse ich darüber meinen Engel, aber dann fällt er mir wieder ein. Er sitzt mir gegenüber in seinem herrlichen weißen Gewand und beißt von einem Stück Brot ab. Eigentlich habe ich immer gedacht, dass Engel nichts zu essen brauchen, und auch nicht der Herr Jesus oder der liebe Gott. Höchstens Manna oder vielleicht noch Hostien oder so was Ähnliches. Aber wenn so ein Engel gerade mal auf der Erde ist, dann schmeckt es ihm vielleicht doch. Jedenfalls starre ich und starre, wie der Engel isst, und dann plötzlich – heiliger Strohsack! – steht der Engel auf und kommt auf mich zu und sagt: »Ei, wer ist denn das?«
Mein Engel spricht mit mir! Er hat mich erkannt! Ich bringe überhaupt keinen Ton heraus, und eigentlich will ich wegrennen, aber meine Füße sind wie festgewachsen. Der Engel hat so blaue Augen wie der Himmel. Jetzt streckt er mir die Hand entgegen, und in der Hand hält er das Stück Brot, von dem er vorhin abgebissen hat. Ich strecke meinen Arm aus dem Gebüsch und nehme
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