Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
Vom Netzwerk:
Nachricht des Reuentalers falsch war? Es war nicht seine Schuld, er hatte es nicht besser gewusst. Aber in mir riefen seine Worte eine große Veränderung hervor. Ich ging traurig in die Frauenkemenate. Dort hing an einem Wandhaken ein großer silberner Spiegel, und ich blickte hinein. Ich wischte mir die Tränen ab. Mein Gesicht kam mir so fremd vor. Nein, ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das sich einmal in einen schönen Ritter verliebt hatte. Meine Kindheit war auf immer vorbei. Und ich dachte an Heinrich Raspe. Ab jetzt, dachte ich, beginnt meine Zukunft. Es war Zeit für Neues.
     
    Mit der Kunde von Raimunds Tod war ich endgültig erwachsen geworden. Ich fing an, mir die Brauen schmaler zu zupfen und mich fraulicher zu kleiden. Das Haar trug ich nun nach französischer Art in zwei Schnecken, die über den Ohren aufgerollt wurden und deren lange Enden bis zu den Schultern herabhingen. Das stand mir gut, ich wirkte damit älter und reifer. Die jungen Männer bei Hof umwarben mich, und ich genoss es, liebte die Spielerei – dabei hatte ich damals immer nur einen im Sinn: Heinrich Raspe.
    Irgendwann im Herbst unternahmen wir alle eine fröhliche Floßfahrt auf der Unstrut. Wir hatten morgens an der Lände in Freystadt abgelegt und waren flussabwärts gefahren. Überall an den Hängen waren die Häcker emsig bei der Arbeit, die Weinlese hatte gerade begonnen. Man winkte uns zu, ab und zu erschollen Hochrufe. An einer günstigen Stelle vier Meilen unterhalb der Stadt legten wir an, die Diener breiteten Decken und Laken aus und es gab ein einfaches Mahl aus Käse, Wein, Nüssen und reifen Trauben. Wir sangen und erzählten uns Geschichten, pflückten Wiesenblumen, die Damen wanden sich bunte Kränze ins Haar. Die Stimmung war ausgelassen und wir trieben allerlei Schabernack. Irgendwann sprang Agnes auf und rief: »Ein Pfänderspiel!«
    Alle machten mit, nur Heinrich Raspe stand ein wenig abseits an einen Baum gelehnt und beobachtete unser Treiben mit sichtlichem Vergnügen. Elisabeth verwaltete die Pfänder, sie steckte sie in einen großen Korb und holte am Ende eines nach dem anderen hervor: »Was soll das Pfand in meiner Hand?« Dann beschlossen wir, was der- oder diejenige zu tun hatte, um sein Eigentum wieder auszulösen. Die meisten waren schon an der Reihe gewesen, als Elisabeth schließlich mein Pfand in der Faust verborgen hielt. »Was soll das Pfand in meiner Hand? Es ist ein weibliches«, verriet sie. Ich hatte ihr das goldene Ringlein gegeben, das ich am kleinen Finger trug.
    Eine der Hofjungfern rief: »Sie soll dem ersten Mann einen Kuss geben, der ihre Hand ergreift!«
    Die anderen stimmten ihr kichernd zu, und als ich aufstand und mich als Besitzerin des Rings zu erkennen gab, gab es noch mehr Gelächter. Agnes schob mich ein Stück über die Wiese vor eine dichte Brombeerhecke, wo ich stehenblieb und wartete, wie sich die jungen Männer alle in einer Linie aufstellten. Ich zupfte derweil ein paar reife, blauschwarze Brombeeren und schob sie mir in den Mund, schmeckte ihren süßsauren Saft und wartete. Dann klatschte Elisabeth in die Hände, und die Männer liefen um die Wette, um mich zu erreichen. Es war ein großes Durcheinander, sie schubsten und stießen, einer fiel sogar hin. Ich genoss das Schauspiel – schließlich wetteiferten sie um mich, jeder wollte meinen Kuss! Ich streckte die Hand aus, und der erste erreichte mich und fasste meine Finger, es war der langbeinige Wieland von Treffurt. Fast gleichzeitig waren auch die anderen da und taten lautstark ihre Enttäuschung kund. Sie umringten mich, jammerten in übertriebener Trauer über ihr Unglück, beschuldigten sich gegenseitig des Rempelns und stritten um den Kuss. Ich fühlte mich wie die schönste Frau der Welt. Alle begehrten meine Lippen als Preis! Geschmeichelt rief ich die Streithähne zur Ordnung. »Haltet ein!«, lachte ich, »Es kann ja nur einer gewinnen!«
    »Ach, Jungfer Gisa, lasst uns nicht herzlos verschmachten! Küsst uns doch alle!« Das war der sommersprossige Gerhart von Trotha, frech wie immer.
    Ich weiß nicht, welcher kleine Teufel mich in diesem Augenblick ritt, aber ich sagte: »Nun gut, eine Dame sollte stets gerecht sein. Und mir scheint, es gab wirklich eine Rempelei. Aber – mit Anstand, meine Herren!«
    Große Begeisterung brach aus. Sie drängten sich um mich, ich schloss die Augen, spitzte den Mund und jeder durfte ganz züchtig meine Lippen küssen. Nach neun Küssen öffnete ich die Augen, mehr

Weitere Kostenlose Bücher