Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
wollte ihr nicht die Genugtuung geben zu sehen, wie seine Augen sich weiteten, und sie sollte auch nicht hören, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Das Rauschen der Wellen war plötzlich unbehaglich leise, und für seinen Geschmack zog der Frühnebel viel zu langsam auf.
»Nicht wie andere Menschen jedenfalls«, fuhr sie leise fort. »Deine Träume sind fiebernd und wild. Du schnarrst und wimmerst im Schlaf.«
»Und was sagt dir das?«, antwortete er ebenso leise. »Shictische Intuition? Oder vielmehr die Geisteskrankheit, die als solche gilt?«
»Du schreist nachts manchmal.« Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos, bot ihm keinen Anlass zu Ärger oder einen Vorwand, diese Unterhaltung zu beenden. »Nicht laut, und nicht in jüngster Zeit, aber du tust es. Ich habe es gehört.«
Ihm stockte der Atem. Plötzlich spürte er ihre Hand auf seinem Arm; die nackte Haut ihrer Finger presste sich gegen seinen Bizeps, der sich sofort anspannte. Obwohl er inständig wünschte, sich förmlich anschrie, es nicht zu tun, drehte er sich herum und starrte in zwei smaragdgrüne Augen.
In dem Jahr, das er sie jetzt kannte, hatte er sich an vieles gewöhnt: an ihre Wildheit, ihre Ohren, ihr morbides Gelächter. Selbst ihre nahezu vollkommene Missachtung menschlichen Lebens hatte er akzeptiert. Ihr starrer Blick jedoch war etwas, und das wurde ihm in diesem Moment bewusst, der ihm immer Unbehagen einflößen würde.
Sie verurteilte ihn nicht, richtete ihn nicht; niemals flackerte eine Emotion in diesem endlosen Grün auf. Ihr Gesicht war ausdruckslos, der Mund ebenso schmal, wie ihre Augen groß waren. Er fühlte sich verwundbar unter ihrem Blick, als könnte sie durch Haut, Fleisch, Knochen und Sehnen und selbst durch das hindurch, was manche Menschen eine Seele nannten, in etwas vollkommen anderes blicken.
Und sosehr er sich auch dagegen wehren wollte, er konnte nur zurückstarren.
»Wovon träumst du?«
»Der Morgen graut. Die anderen werden bald aufstehen.« Flüchtig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er sich nicht von ihr losreißen konnte. »Geh und belästige einen von ihnen.«
»Träumst du von deiner Familie?« Ihr Griff um seinen Arm wurde fester. »Siehst du sie, wenn du deine Augen schließt?« Sie packte seine Hand. »Lenk … sind sie es, die du hörst?«
»Halt den MUND!«
Er riss sich mit einer erschreckenden Leichtigkeit von ihr los, während er ihren starren Blick finster erwiderte. Waren ihre Augen von einem unergründlichen, leidenschaftslosen Grün, so spürte er, wie seine Augen sich mit ätzendem Hohn füllten. Ihm wurde plötzlich sehr kalt.
»Ich brauche deine bohrenden Fragen nicht.« Seine Stimme wehte zwischen seinen Zähnen wie eine Wolke aus Eis hervor. »Ich brauche dein Mitgefühl nicht. Ich muss nicht darüber reden und werde es auch nicht tun.«
Plötzlich verlor ihr Blick die Distanz und Ausdruckslosigkeit. Er zuckte wie der eines Tieres, schwankte zwischen
Furcht und Entschlossenheit, zwischen Zittern und Stärke. Sein Blick wurde daraufhin noch härter, bohrte sich tief in sie hinein wie die schmale Klinge eines Stiletts. Er biss die Zähne zusammen, und die Hände an seinen Seiten zitterten.
»Was ich brauche, ist, dass du aufhörst, mich anzuglotzen.«
Das Journal fiel in den Sand. Das Geräusch, mit dem es landete, hallte laut durch den Morgen.
Als er sich umdrehte, schien die Natur hinter ihm zu verstummen. Der Morgen schien von einem bedrückenden Vorgefühl erfüllt, der Nebel schickte wütende Finger aus, die sich zwischen die beiden Gefährten zu drängen suchten, um Raum für eine andere Wesenheit zu schaffen.
Etwas schien zwischen sie zu treten, nahm seinen Platz auf eisigen Füßen ein und richtete seinen feindseligen, finsteren, augenlosen Blick auf die Shict.
Sie gab nicht nach.
Sie hatte es zuvor bereits gefühlt, hatte gesehen, wie diese Wesenheit Lenk wie ein neidischer Schatten folgte, versucht hatte, andere wegzustoßen, während sie selbst sich vordrängte. Sie hatte gesehen, wie diese Wesenheit sich über ihn gestülpt, ihn überwältigt hatte, er geworden war.
Sie fürchtete sie nicht, nicht mehr, nicht um ihretwillen.
»Entschuldige …«
Sein Körper schien mit seinem Seufzer zu schrumpfen. Sie kommentierte seine Entschuldigung mit einem Grunzen.
»Du erinnerst dich daran, wie ich gefallen bin«, sagte sie. »Weißt du auch noch, was dann passiert ist … mit dem Abysmyth?«
»Nein.«
»Doch. Das tust du. Und ich auch.« Sie trat
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