Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
das Junge. »Mein Vater ist verschwunden … schon lange, bevor auch sie gegangen ist.«
»Ist er gestorben?«
»Ich … ich glaube schon. Ich kann mich nicht richtig erinnern.«
Das Junge legte seine beiden pummeligen Klauen auf die
winzigen Knochenstümpfe, die eines Tages zwei massive Hörner werden würden. Geworden wären, verbesserte Gariath sich.
»Wenn ich daran denke, tut mir der Kopf weh«, klagte das Junge. »Du gehst nirgendwohin, oder?«
»Natürlich nicht.« Gariath lächelte. »Wie heißt du?«
»Grahta«, antwortete das Junge. »Das bedeutet …«
»Stärkster«, beendete der ältere Rhega den Satz. Er lächelte verstohlen. »Bist du sicher, dass der Name zutrifft?« Er stieß das Junge an, das daraufhin umkippte. »Du scheinst nicht sehr stark zu sein.«
»Eines Tages werde ich stark sein!« Grahta sprang auf und stürzte sich auf Gariaths Hand, als dieser sie wegzog. »Auf jeden Fall ist es ein viel besserer Name als deiner, wie auch immer du heißt.«
»Mein Name«, der ältere Rhega richtete sich stolz auf, »lautet Gariath.«
»Weisester?« Grahta lachte. »Das kann nicht stimmen.«
»Wieso sagst du das?« Gariath runzelte die Stirn. »Ich bin sehr weise.«
»Du bist ziemlich übel zugerichtet, das bist du.« Grahta legte einen stummeligen Finger auf Gariaths Wunden und fuhr dann über die schwarzen Flecken, wo seine Haut verbrannt war. »Was ist mit dir passiert?«
Gariath blickte auf den Finger, der ihn so neugierig betastete und alles durch diesen zarten Kontakt aufnahm. Er erinnerte sich wieder daran, dass sie tatsächlich so winzige Finger gehabt hatten.
»Ich …«, flüsterte er seufzend, »habe mir wehgetan.«
Ich habe versucht, mich umzubringen, setzte er in Gedanken hinzu, ich wollte zu dir kommen, Grahta, und zu deiner Mutter, meinem Vater und meiner …
»Das war aber nicht sehr klug.« Grahta legte seine kleine Stirn in Falten. »Solltest du nicht der Kluge sein?«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe gehört, wie du mit den anderen Kreaturen geredet
hast, mit denen du zusammen bist. Du schreist sie an, beschimpfst sie und versuchst, ihnen wehzutun.« Die Miene des Jungen verfinsterte sich weiter, und erneut blickte es zu Boden. »Mein Vater hat auch immer so geredet.«
»Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du zugehört hast.«
»Du klangst nicht sehr glücklich.«
Gariath senkte ebenfalls den Blick. »Das bin ich auch nicht.«
»Warum nicht? Hast du nicht genug zu essen?«
»Ich habe genug zu essen«, antwortete Gariath. »Aber … ich habe niemanden, mit dem ich reden kann.«
»Was ist denn mit diesen Kreaturen?«
»Den Menschen?«
»Nennt man sie so? Sie riechen schlecht.« Das Junge legte den Kopf auf eine Seite. »Bist du deswegen nicht glücklich? Weil sie schlecht riechen? Vielleicht könntest du sie ja bitten, sich zu waschen.«
»Menschen sind…« Gariath seufzte wieder. »Sie riechen immer schlecht, ganz gleich, wie oft sie sich waschen. Und je mehr von ihnen da sind, desto schlechter riechen sie.«
»Sind denn viele von ihnen da?«
»Sehr viele.«
»Mehr als Rhega?«
Viel mehr. Tausendfach mehr. Es gibt keine Rhega mehr. Sag es ihm. Er hat verdient, es zu erfahren.
»Du brauchst dir um die Menschen keine Sorgen zu machen«, antwortete Gariath. »Also lass uns nicht über sie reden.«
»Einverstanden«, antwortete Grahta. »Wieso bist du allein?«
Gariath zuckte zusammen.
»Ich meine«, fuhr das Junge fort, »hast du keine Familie?«
»Ich hatte … ich habe eine.« Der ältere Rhega nickte. »Ich habe zwei Söhne.«
»Wie heißen sie?«
Gariath zögerte und blickte das Junge eindringlich an. »Ihre Namen sind Tangahr und Grahta.«
»So wie ich!« Das Junge lief einmal im Kreis herum und schrie aufgeregt. »Ist dein Sohn auch Stärkster?«
»Er war … sehr stark«, flüsterte Gariath, dessen Stimme plötzlich erstickt klang. »Sein Bruder auch. Sie waren viel stärker als ihr Vater.«
»Ich bin sicher, dass du auch eines Tages stark sein wirst«, meinte das Junge und nickte eifrig. »Du musst nur einfach mehr Fleisch essen.«
»Das … bestimmt werde ich irgendwann auch stark sein.«
»Natürlich nicht so stark wie ich.«
»Natürlich nicht.«
»Ich bin sehr stark, weißt du. Einmal habe ich sogar ganz allein einen Dachs getötet. Damals, als …«
Der Fluss murmelte leise um sie herum, und kein Geräusch lenkte Gariath ab, während er dem Jungen zuhörte. Jedes Wort hallte in seinem Kopf, jedes Wort grub sich
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