Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
kriechen vor ihren Füßen!«
»Ich habe geglaubt«, flüsterte Mesri, »dass wir einfach nur weiter beten müssten, um den Segen zu erhalten. Ich habe mich geirrt.«
»Dann begreifst du es? Das ist der einzige Weg...« Der Mund blickte auf die Phiole. »Vater muss...«
»Ich habe mich geirrt, als ich glaubte, die Götter würden uns wie Schafe behandeln.« Mesri drang zu ihm durch, als er plötzlich laut und dröhnend weitersprach. »Ich habe mich geirrt, als ich glaubte, wir könnten uns einfach nur von den Segnungen nähren, die sie uns gaben. Die Götter haben uns Reichtümer geschenkt, und wir haben sie vergeudet. Die Götter gaben uns Wohlstand, und wir haben ihn verschwendet. Dieser Tempel hätte so bedeutend sein können wie die Kirchenhospitäler der Talaniten. Wir hätten so vielen Menschen helfen können...«
»Aber der Wohlstand versiegte. Überall sind Kranke und Hungernde. Die Götter haben uns im Stich gelassen.«
»Der Wohlstand ist verschwunden, und die Kranken und Hungrigen existieren wegen dem, was wir getan haben. Nicht die Götter haben dich im Stich gelassen.« Mesri schloss die Augen und seufzte leise. »Ich tat es. Ich.«
Der Mund war sowohl beleidigt als auch erstaunt, vermochte keine Worte zu finden, um seine Gefühle auszudrücken.
»Ich hätte deinem Kind helfen können. Ich hätte sie retten können.« Er zupfte an seinen Gewändern. »Diese Kutte verbreitet Respekt. Ich hätte die besten Heiler holen können.«
»Aber du hättest es nicht getan.«
»Nein, hätte ich nicht.« Mesri schüttelte den Kopf. »Ich hätte mich in meinem Gold und meiner Seide gewälzt und gedacht, dass die Götter das Problem schon lösen würden. Aber es ist nicht ihre Schuld. Es ist meine, weil ich glaubte, dass es passieren würde. Hätte ich das Wissen besessen, hätte sich mir die Gelegenheit geboten... dann wären wir nicht in dieser Situation.«
»Aber das sind wir«, erwiderte der Mund bissig. »Und wir haben keine Möglichkeit mehr, außer das Unausweichliche zu tun.«
»Es gibt keine Unausweichlichkeit!«, erwiderte der Priester hitzig. »Es gibt nur die Menschheit und ihren Willen, das zu tun, was richtig ist. Was wir hier haben, ist Wissen. Wir
haben die Gelegenheit.« Er streckte seine Hand aus. »Gib mir die Phiole.«
Der Mund war in der Lage, tausend Antworten auf eine solche Forderung zu geben, von denen die meisten etwas mit einem Messer und einem Stich zu tun hatten und alle eine vollkommene Ablehnung beinhalteten. Was er jedoch tat, und womit er nicht im Entferntesten gerechnet hatte, war sprachlos auf die Phiole zu starren, den Schlüssel zur Veränderung, den Schlüssel zur Freiheit.
Zur Absolution.
»Was werden sie sagen, wenn du Daga-Mer befreit hast?«, erkundigte sich Mesri. »Was werden sie tun, wenn er ihr Leben zerstört, ihr Heim, ihre Familien? Sie werden dasselbe tun, was du getan hast: Sie werden sich in eine Finsternis stürzen, die noch tiefer ist als die Sünde. Sie werden leiden, wie du gelitten hast. Sie werden versuchen, sich einzureden, dass sie keine Erinnerung brauchen, dass sie diese Qualen nicht brauchen.
Worauf wir jedoch nicht setzen können, ist, dass sie in einer Position sein werden, das zu tun, was du getan hast«, fuhr Mesri leise fort. »Wir können nicht damit rechnen, dass ihnen der Wert der Erinnerung klar wird, dass sie den Schatz begreifen, der in dem Bild des Gesichtes ihrer Tochter liegt, in ihrem Gedächtnis.« Er starrte den Mund eindringlich an. »Du kannst die Phiole in das Becken schleudern. Dann wirfst du auch ihr Gesicht und ihr Leben mit hinein.
Oder du kannst sie mir geben. Und wir können Hunderten von Menschen das ersparen, was du gerade fühlst.«
Der Mund verspürte kein Verlangen, das, was er empfand, jemand anderem zuzufügen. Der Mund war nicht einmal sicher, was er überhaupt empfand. Verzweiflung selbstverständlich, durchmischt mit Ärger und Frustration und einem Zwang, aber er wurde von Gefühlen aufgewühlt, die in ihm tosten, sodass er nur Fetzen von ihnen wahrnehmen konnte. Und bei jedem Blick tauchte eine Erinnerung auf: das Lachen seiner Tochter, das erste aufgeschürfte Knie seiner
Tochter, das erste Spielzeug seiner Tochter, der Tod seiner Tochter...
Und er wollte, dass sie für immer verschwanden.
Und er wollte sich für immer an sie klammern.
Und er wollte, dass die Welt sah, wie falsch die Götter waren.
Und er wollte, dass niemand an die dunklen Orte gehen musste, an denen er gewesen war.
»Ich kenne
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