Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
verschiedene Aromen aus, zumeist unterschiedliche Gerüche der Gereiztheit. Als sie jedoch heute ohne ein Wort zu wechseln und nur mit einem flüchtigen Blick aneinander vorbeigegangen
waren, hatte Gariath gespürt, dass etwas an dem jungen Mann anders war. Der Drachenmann hatte tief inhaliert und nichts gerochen. Und ihm war ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, als er in Lenks Augen geblickt hatte.
Es war nur eine flüchtige Empfindung, die in weniger als einem Augenblick auch wieder verschwand. Der Mensch war immer noch derselbe Mensch, der sich letzte Nacht wie ein Feigling benommen hatte, derselbe Mensch, der in sinnloses Geplapper verfallen war, derselbe Mensch, den Gariath nur eines kurzen Blickes gewürdigt hatte, bevor er über Bord gesprungen war, um die Shen zu verfolgen.
Aber in Lenks Augen war es ganz klar zu sehen gewesen, in einem Schweigen, welches das Heulen des Windes abtötete, dass Gariath von dieser Nacht an nicht mehr derselbe Drachenmann war.
Dieser Drachenmann hatte ihm nichts erzählt, nichts von dem Plan der Spitzohrigen, ihn zu töten, von den Dämonen auf der Insel, von den Langgesichtern, gar nichts. Denn der Mann, den er gesehen hatte, war nicht der Mann jener Nacht, der Mann, den er gesehen hatte, duldete nichts anderes als Schweigen.
Gariath schnaubte unwillkürlich; so viel Schweigen und so wenig Bedeutung in alldem. Allmählich ärgerte es ihn. Unwillkürlich streifte sein Blick umher, suchte nach Gegenständen, die den meisten Lärm machen würden, wenn er sie zertrümmerte. Bäume, Felsen, Blätter: alle provozierend und enervierend stumm.
Er marschierte weiter, stampfte mit den Füßen auf den Boden, zermalmte Blätter unter seinen Fußsohlen. Er musste diese Stille durchbrechen, dachte er, als er aus dem Unterholz stürmte und auf eine große Lichtung mitten im Wald trat. Er brauchte jemanden, mit dem er sprechen konnte.
Als er die Sonne auf seiner Haut fühlte, wusste er, dass er ihn gefunden hatte.
Er musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn ganz zu
sehen, sein gewaltiges, makelloses, graues Gesicht; seine verwitterte, abgerundete Krone; seine ungeheuren irdenen Wurzeln, die sich in das leise plätschernde Wasser eines großen Teiches erstreckten.
Es war ein Stammesältester, der Familienstein, an dem alle Rhega begannen und endeten und der sich hoch über ihn erhob. Er betrachtete den ungezeichneten und ungeschmückten Stein und spürte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. Die Stammesältesten waren die Basis, der Fokus, die Stabilität eines Rhega- Clans. Und wenn er der Größe dieses Steins glauben konnte, hatte er viele Lasten von vielen Angehörigen seines Volkes getragen.
Sein Volk. Ihre Zahl auf dieser Insel musste so groß gewesen sein, dass sie irgendwann einmal diesen Fels errichtet und ihn in ihre Erde gepflanzt hatten.
Einmal... er spürte, wie sein Lächeln erlosch, als die Worte durch seinen Kopf hallten. Einmal vor langer Zeit.
Doch die Witterung war sehr schwach; das konnte eigentlich nicht stimmen. Der Stammesälteste war titanisch. Der Geruch der Rhega, ihrer Erinnerungen, ihrer Familien, ihrer Kinder, ihrer Wunden, ihrer Feste, ihrer Geburten, ihrer Älteren... er hätte überwältigend sein sollen, hätte ihn allein schon durch das Gewicht des Duftes der Vorfahren in die Knie zwingen müssen.
Aber es roch vor allem nach faulen Gewässern und moosbedeckten Felsen. Nicht nach Leben, nicht nach Tod, sondern nach Vergänglichkeit, wie zwischen einem sterbenden Winter und einem blutigen neugeborenen Frühling, kaum stark genug, dass sich eine einzelne Erinnerung, eine einzelne Erklärung hätte bemerkbar machen können.
Aber sie machte sich bemerkbar.
Immer und immer wieder.
Ahgaras erlag seinen Verletzungen und starb hier, sagte der Duft.
Raha verblutete auf der Erde und starb hier.
Shuraga fiel und starb hier, die Arme aus seinem Leib gerissen.
Ishath hielt sein totes Junges in seinen Armen und aß nichts mehr...
Garasha kreischte, bis ihm der Atem ausging...
Urah ging in die Nacht hinaus und kehrte nicht zurück...
Junge starben, Ältere starben, alle starben...
Gariath sog ihre Gerüche ein, obwohl sie mit jedem Atemzug schwächer zu werden schienen. Sein Herz verschwor sich mit seinen Lungen, bat ihn, damit aufzuhören, die Erinnerungen zu wittern, aufzuhören, sie beide zu quälen. Aber er atmete sie weiter ein, suchte nach etwas anderem, nach dem Geruch von Geburt, Paarung, Stuhlgang, nach irgendetwas anderem
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