Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
und einen gemeinsamen Gedanken geteilt, gemeinsames Wissen. Das Heulen war der gemeinsame, uralte Instinkt, der alle Shict miteinander verband. Derselbe Instinkt, welcher der Grünshict ihren Namen verraten hatte.
Derselbe Instinkt, an den Kataria sich kaum noch erinnern konnte, weil sie ihn so lange nicht mehr benutzt hatte.
Trotzdem griff sie danach, bemühte sich, den Namen der
Grünshict zu ertasten, griff nach dem einfachsten, fundamentalsten Wissen, welches sie durch das Heulen teilten.
»In...«, flüsterte sie. »Inqalle?«
Inqalle nickte, zuckte jedoch nicht einmal mit der Wimper. Sie forschte weiter, starrte Kataria an und fand mithilfe des Heulens heraus, was sie nicht verheimlichen konnte. Kataria versuchte nicht, ihr Unbehagen unter diesem Blick zu verbergen, und sah auf ihre Füße. Nach wenigen Augenblicken hatte Inqalle in sie hineingeblickt, hatte ihre Scham erkannt und sie verurteilt.
»Kleine Schwester«, flüsterte sie. »Ich weiß, warum du hier bist.«
»Es ist kompliziert«, antwortete Kataria.
»Ist es nicht.«
»Nein?«
»Du bist von Furcht erfüllt. Ich höre sie in deinen Knochen.« Sie zog die Augen zusammen und legte die Ohren an ihren Kopf. »Du bist mit Menschen zusammen gewesen...«
Merkwürdig, dachte Kataria, dass ich erst jetzt den blutverschmierten Tomahawk bemerke, der an Inqalles Gürtel hängt. Sie betrachtete ihn lange.
Es gab Shict, die Menschen verachteten, und Shict, die Menschen verabscheuten. Und es gab die s’na shict s’ha, jene wenigen, denen es gelungen war, die bedrohlichen Rundohren von ihrem Land zu vertreiben. Sie hatten ihr Land verlassen und sich auf die Reise begeben, um jene Seuche auszulöschen, die sie einst bedroht hatte.
Und jene abzuschlachten, die sich mit dieser menschlichen Seuche zusammengetan hatten, betrachteten sie als einen Akt der Gnade an den unheilbar Erkrankten. Aus diesem Grund machte sich Kataria bereit, sich umzudrehen und wegzurennen, sobald Inqalle den Tomahawk vom Gürtel nahm.
Aber nichts geschah. Inqalle war auch ohne Waffe schon gefährlich genug.
»Kataria«, flüsterte sie und trat einen Schritt näher. Kataria
spürte, wie der Blick der Grünshict noch tiefer in sie drang, alle Gedanken, ihre Geschichte, ihre Herkunft und alles durchforschte, was sie vor dem Heulen nicht verbergen konnte. »Tochter von Kalindris. Tochter von Rokuda. Ich habe gehört, wie die Lebenden eure Namen aussprachen.«
Ihr Blick glitt zu den Federn in Katarias Haar und blieb beunruhigt an einer langen weißen Feder hängen, die zwischen den dunkleren ruhte.
»Und die Toten«, flüsterte sie. »Um wen trauerst du, Kleine Schwester?«
Kataria drehte den Kopf zur Seite, um die Feder zu verbergen. Inqalles Hand zuckte vor wie eine Peitsche, packte ihr Haar und drehte ihren Kopf herum, während sich ihre langen grünen Finger in ihre Locken gruben.
»Du bist... verseucht«, zischte sie. Ihre Stimme schmerzte in Katarias Ohren. »Nicht stumm.«
»Lass mich los!«, fauchte Kataria.
»Du sprichst nur Worte aus. Das ist alles, was ich höre.« Sie tippte auf ihre tätowierte Stirn. »Hier drin höre ich nichts. Du sprichst nicht mit dem Heulen. Du bist keine Shict.« Sie riss die weiße Feder heraus, mitsamt einigen Haarsträhnen. »Du trauerst nicht um einen Shict.«
»Gib mir das zurück!«, knurrte Kataria und griff rasch danach. Mit einer schon beleidigenden Leichtigkeit zuckte Inqalles Hand vor und landete auf ihrer Wange. Kataria fiel zu Boden. Sie sah flehentlich hoch. »Dazu hast du kein Recht.« Sie zuckte zusammen. »Bitte.«
»Shict bitten nicht.«
»Ich bin eine Shict!«, schrie Kataria und sprang auf. Sie hatte die Ohren an den Kopf gelegt und fletschte die blitzenden Zähne. »Erhebe noch einmal die Hand, dann werde ich es beweisen.«
»Du willst es beweisen«, erwiderte Inqalle leise. Es war eher eine Feststellung als eine Herausforderung oder eine Beleidigung. »Das möchte ich sehen.«
»Dann lass mich dir zeigen, wie ich aus dir eine Rotshict mache, du sechszehiges Stück...«
»Es gibt einen anderen Weg, Kleine Schwester.«
Kataria hielt inne. Sie spürte Inqalles Heulen, das Versprechen einer fernen Stimme, den Wunsch zu helfen. Und Inqalle hörte die Erwartung ihrer Kleinen Schwester, die verzweifelte Hoffnung auf Hilfe. Inqalle lächelte, ein böses, scharfes Lächeln. Kataria schluckte schwer.
»Zeig ihn mir.«
»Du weißt, dass du im Schlaf sprichst«, sagte ihre Tochter Jahre später, lange, nachdem sie aus
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