Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
Das war nicht normal, so viel war ihm klar; Schmerz war zwar der Preis für übermäßig gewirkte Magie, und das Eisfloß, das er gewirkt hatte, um seine Gefährten zu retten, hatte zweifellos seine Magie überstrapaziert. Aber normalerweise war ein solcher Schmerz im Hirn beheimatet und hielt nur selten mehr als ein paar Stunden an. Diese besondere Pein, die durch seinen ganzen Körper strömte, war ihm neu.
Aber nicht unbekannt.
Hör auf damit, schalt er sich. Du hast schon genug Ärger, ohne dass du über den Zerfall nachgrübelst. Du hast ihn nicht. Also hör auf damit. Konzentrier dich auf das Wesentliche. Konzentrier dich auf die Möwe.
Die Möwe, dachte er, als er den zitternden Vogel auf seinen Schoß zog, und ihr winziges, feuchtes, elektrisches kleines Hirn.
Trotzdem zögerte er, als er einen Finger auf den Schädel des Vogels legte. Mehr Magie bedeutete mehr Schmerz, und es schien unklug, noch mehr Energie auf etwas zu verschwenden,
das nicht garantiert die Erlösung im Meer finden würde. Und was Magie anging, war diese Vogel-Hellsicht ebenso unzuverlässig wie alles andere.
Dreadaeleon hatte noch nie einen Vogel gefunden, der nicht ein ungeschickter, von Gier getriebener Schwachkopf gewesen wäre. Er spürte jetzt die Elektrizität in seinem Hirn: gerade, wenn auch primitive Ströme von Energie, die minimale zielstrebige Aktivität annehmen ließen. Diese Ströme waren dafür verantwortlich, dass die Gehirne von Vögeln leichter zu manipulieren waren als menschliche Gehirne mit ihrem Gewirr aus verworrenen Funken. Gleichzeitig jedoch waren sie kaum nützlich bei der Suche nach etwas anderem als Aas oder Krümel.
Aber Aas und Krümel waren Nahrung, und wie sein knurrender Magen ihn erinnerte, war Nahrung etwas, was sie bisher nicht gefunden hatten.
Er flüsterte ein Wort. Ein schwacher elektrischer Stoß floss aus seinen Fingern in den Schädel des Vogels. Er zuckte einmal und stieß dann ein furchtsames Krächzen aus. Dreadaeleon fühlte die Ladungen primitiver Erkenntnis, die in seinem eigenen Gehirn explodierten, als sich ihre Gedanken synchronisierten.
Furchtsam, sagten sie ihm. Furchtsam, furchtsam, furchtsam, furchtsam.
»Sehr gut«, murmelte er leise. »Jetzt geh.«
Er ließ den Vogel los, der dicht über den Wellen davonflog. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Er konnte die Präsenz der Möwe in seinem Verstand fühlen, spüren, wo sie sich befand, kannte ihre Gedanken, die einer nach dem anderen durch ihr winziges Hirn schossen. Jetzt brauchte er nur noch zu warten; er konnte ihre Signatur mindestens eine Stunde lang verfolgen.
Der Schmerz durchzuckte ihn wie eine Lanze. Er fuhr zusammen.
Vielleicht auch weniger.
»Was hoffst du zu bewerkstelligen?«, fragte ihn jemand.
»Tiere suchen immer zuerst nach Nahrung. Wenn es hier so etwas gibt, werde ich es erfahren«, erwiderte er, während er sich auf die Möwe konzentrierte.
»Es gibt viele Orte, welche die Kreaturen der Seemutter erreichen können, du jedoch nicht.«
»Wenn ich das Hirn einer Möwe anzapfen kann, dann werde ich ganz gewiss auch herausfinden, wie ich dorthin komme, wohin sie geflogen ist«, erwiderte er fauchend. Erst als sein Zorn stärker als sein Schmerz wurde, fiel ihm auf, dass die Stimme nicht einem seiner Gefährten gehörte.
Dennoch war sie ihm nicht fremd.
Er drehte sich um und sah sie vor sich. Ihr blasser Körper war von einem seidenen Gewand umhüllt, ein Flossenkamm erhob sich über ihrem Kopf, und die gefiederten Kiemen verschwanden in ihrem smaragdgrünen Haar. Er starrte sie mit offenem Mund an, und die Sirene lächelte.
»Es freut mich, dass es dir gut geht, Gelehrter«, sagte Grünhaar. Die Flossen an der Seite ihres Kopfes zuckten. »Das ... das tut es doch?«
»Im Augenblick nicht sonderlich«, antwortete er. Er versuchte aufzustehen, aber der Schmerz durchfuhr ihn, und er wäre am liebsten zusammengezuckt.
Tu es nicht, mein Alter, warnte er sich. Vergiss nicht, dass sie hinterlistig ist. Sie kann in deinen Kopf eindringen. Sie kann deine Gedanken manipulieren. Bleib ruhig. Denk nicht über den Schmerz nach. Sonst merkt sie es ... es sei denn, sie weiß es schon und sagt dir, wie du jetzt empfinden sollst, um ihren Plänen zu dienen. Hör auf zu denken. ICH SAGTE, HÖR AUF ZU DENKEN!
»Bleib ruhig, Gelehrter«, flüsterte sie. »Ich bin nicht hier, um Zwist zu säen.«
»Ja, du bist ziemlich talentiert, hab ich recht? Du erntest ihn, ohne ihn auch nur gesät zu haben«,
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