Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
erkennen, was schon seit sehr, sehr langer Zeit von den Flammen verdeckt worden war.
Verzweiflung.
Furcht.
Die Hoffnung, dass irgendwie, auf irgendeine Art und Weise, alles, was er dachte, vollkommen und in jeder Hinsicht falsch sein könnte.
»Woher weißt du das?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Ketten rasselten leise. »Es ist niemals klar. Nicht ohne Leiden.«
»Leiden?«
»Erst mit dem Leiden kommt das Verstehen.« Sie schloss die Augen und ließ sich von der Wahrheit dieser Worte durchdringen, die ihre Furcht und ihre Wut überlagerte. »Großes Leid.«
Er nickte ernst. Was sie in sich selbst spürte, sah sie plötzlich auch in ihm, als das Feuer in seinen Augen flackernd erlosch und nur noch leeres Weiß übrig blieb.
»Die Götter kommen wegen des Leides zu dir«, erklärte er, »wenn sie gebraucht werden. Deshalb hast du sie«, er zögerte, bevor er fortfuhr, »in jener Nacht angerufen.«
In die weißen Augen dieses Mannes,ihres Vergewaltigers , zu starren, wie sie zuvor in seine roten Augen gestarrt hatte, hätte genügen sollen, um sie vollkommen zu vernichten. Sie hätte zusammenbrechen, schlaff in ihren Ketten hängen sollen, jeden Willen verlieren müssen, jemals wieder den Kopf zu heben. Aber da war etwas in diesen Augen, etwas Strahlendes und Lebendiges, das noch heller brannte als das Feuer.
Dieser Mann war kein Gott. Man konnte diesem Mann begreiflich machen, was er getan hatte.
Sie sah an ihm vorbei. Nai hing schlaff in ihren Fesseln und atmete keuchend.
Asper musste das um ihretwillen glauben.
»Wie viel?« Es war sein Tonfall, der ihre Aufmerksamkeit erregte, und das Schimmern in seinen Augen, was sie fesselte. »Wie viel Leiden, bevor sie auftauchen?«
»Ich weiß es nicht …« Sie unterbrach sich und überlegte. »Viel«, antwortete sie leise. »Es ist viel Leiden erforderlich, viel Reue, viel Strafe.«
»Und das eine kann sich unmöglich ohne das andere ereignen?«
Als er sich von ihr abwandte, sah sie es. Sie sah es in seinen Augenwinkeln, als hätte es sich die ganze Zeit dort verborgen. Es war ein kleines bisschen zu viel von – wovon auch immer. Vielleicht war das eifrige Schimmern in seinen Augen zu hell, das Lächeln zu breit, ein Lächeln, das allzu wissend war.
Sie sah es.
Und im selben Moment begriff sie, dass er noch genauso grausam war wie vorher.
»Nein«, flüsterte sie.
Vielleicht hatte Nai Aspers Ausruf gehört oder die Schritte von Sheraptus, als er sich ihr näherte. Sie blickte hoch. Jetzt begriff Asper mit einem Schlag, was ihr bislang entgangen war. Sie verzerrte ihr Gesicht zu einer wilden Grimasse, ballte die Hände zu Fäusten und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass Blut herausspritzte.
»Nein! Nein!« Nai schüttelte den Kopf, mit jedem Wort heftiger. »Nein, nein, nein, nein, nein!« Sie schlug fast um sich, als er näher kam, ihre Ketten rasselten, und ihre Fersen kratzten wild über den Steinboden, als sie versuchte zurückzuweichen. » NEIN ! NEIN ! NEIN ! NEIN !«
» Warte! WARTE !«, schrie Asper ihm nach. »Das habe ich nicht gemeint! Es bedeutet nicht, dass du …!«
»Doch, das bedeutet es«, antwortete Sheraptus leise. »Es ist vollkommen logisch. Warum sollten die Götter kommen, es sei denn, man ruft sie? Es sei denn, die Not wäre wirklich groß?«
»Ich habe nichts getan!«, jammerte Nai. Das Tuch ihrer Schuhe scheuerte durch, und schon bald hinterließ sie blutige Flecken auf dem Boden, als sie sich verzweifelt mit den Füßen gegen ihr Schicksal stemmte. »Ich habe nichts getan. Ich habe nichts getan! Ich war brav! Ich … ich habe geschrien! Bitte, nein! Bitte, bitte, bitte, bitte …!«
»Halt!«, schrie Asper und wollte sich auf ihn werfen. Die Ketten hielten sie zurück, schienen sie mit ihrem Rasseln zu verspotten, als sie sie an die Wand zurückzogen. »Das habe ich nicht gemeint! Hör auf! Hör auf!«
Das Metall ihrer Handschellen ächzte und wurde ihrer vergeblichen Bemühungen müde. Immer wieder zogen sie Asper zur Wand zurück, flehten sie mit kreischendem Metall an, sich diese Folter zu ersparen. Asper schrie lauter, um sich Sheraptus in dem Lärm verständlich zu machen, schrie ihn an, flehte und fluchte.
Bei dem Klappern der Ketten und ihrem Schreien hörte sie nicht, wie Schweiß auf glühendem Metall zischte und Stein zerbarst.
Nais Jammern endete schlagartig, als er vor ihr stand und sie mit großen schimmernden Augen betrachtete. Sie erstarrte in ihren Ketten, als würde er
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