Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
hilflos in ihren Ketten an der Wand hing. Asper hatte das Gefühl, ihr Unterleib würde sich auflösen, als hätte er sie angesehen statt Nai. Ihre Füße scharrten über den Boden, doch die Ketten hielten sie zurück, zwangen sie, hilflos zuzusehen, wie er den Arm hob und mit zwei langen, tastenden Fingern sanft über Nais Wange strich.
»Welchen Nutzen hat ein solch schwaches Ding …«, flüsterte er.
Das Feuer in seinen Augen glühte und tauchte Nais Gesicht in rotes Licht. Sie wimmerte leise, wagte nicht zu sprechen, wagte nicht einmal, sich zu bewegen, als seine Finger hinabglitten, über ihren Hals zu ihrer Brust.
» ICH WEISS ES NICHT !«
Das war keine Lüge. Asper kannte die Antwort tatsächlich nicht. Sie wusste auch nicht, warum sie plötzlich schrie. Aber es interessierte sie auch nicht. Sheraptus wandte sich von Nai ab, und das Glühen in seinem Blick sank zu einem schwachen Glimmen herab. Die Priesterin hielt den Blick auf das Mädchen gerichtet, sah, wie es wieder in seinen Fesseln erschlaffte, bevor sie den Blick erwiderte, mit dem er sie anstarrte.
»Das weiß niemand«, fuhr Asper fort. »Die Götter verraten es uns nicht, wenn wir geboren werden.«
»Warum also?«
»Warum was?«
»Warum tut ihr, was ihr tut?«, erkundigte er sich. »Warum ruft ihr Götter an, wenn ihr sie weder sehen noch hören könnt und sie nicht zu euch sprechen?«
»Das tun sie. Wir haben Schriften, Gebete, Hymnen und Rituale. Sie sagen uns, wie wir leben und was wir tun müssen«, sie machte eine kleine Pause, um ihre nächsten Worte zu betonen, »warum wir nicht töten sollen und …«
»Das sind keine Götter. Sie erschaffen nicht, sie wurden erschaffen.«
»Von den Göttern.«
»Wie?«
»Sie haben uns gesagt …«
»Warum sprechen sie jetzt nicht zu dir? Was bewirken diese Rituale und all diese Dinge anderes, als noch mehr Fragen aufzuwerfen? Woher bekommt ihr die Antworten?«
»Sie … sie …« Die Worte kamen zögernd aus ihrem Mund, als würde ein Messer aus ihrem Körper gezogen. »Sie geben uns vielleicht keine Antworten. Die Götter sprechen möglicherweise nicht einmal zu uns.« Dann sprach sie es zum ersten Mal laut aus. »Vielleicht existieren sie überhaupt nicht.«
Es schmerzte mehr, als sie gedacht hatte.
»Doch, das tun sie.«
Ihr Schmerz verwandelte sich bei seinen Worten in Verwirrung.
»Woher sollte all dies sonst kommen?« Er schüttelte den Kopf. »Im Nieder haben wir keine Bäume, Sand oder Ozeane.« Er seufzte. »Wir haben keine Götter. Aber ihr? Ihr habt alles. Und wofür? Was bewirkt das alles für euch? Was ist sein Zweck?«
»Nicht alles muss einen Zweck haben«, antwortete sie. »Einige Dinge darf man nicht töten, und einige Wesen töten nicht, sondern sind einfach nur da … richtig? Sie existieren, um beschützt zu werden, man muss sie hegen und pflegen.« Ihr Blick glitt zu Nai. »Die Götter können unmöglich auf alles und jeden aufpassen.«
»Das ist unlogisch!«, fuhr Sheraptus sie an. »Wenn die Bäume nicht geschaffen wurden, um zu Schiffen verarbeitet zu werden, warum sind sie dann hier? Welchen Sinn hat Metall, wenn es nicht zu Schwertern geschmiedet wird? Und wenn etwas existieren soll, warum ist es dann so zerbrechlich?« Er ging wieder im Kreis und rieb seine Krone. »Alles muss aus einem bestimmten Grund erschaffen worden sein. Alles muss einen Zweck haben. Was ist ihr Zweck?«
Er wirbelte herum. Das Feuer in seinen Augen wurde von Verzweiflung geschürt und loderte mit einer solchen Intensität, dass es sein Gesicht einzuhüllen schien. Nur seine spitzen Zähne waren noch zu sehen, als er das Gesicht verzerrte. Er deutete mit einem Finger auf sie.
»Welchem Zweck dienst du?«
Asper wollte wegsehen, dem starren Blick seiner Augen ausweichen, seinen Zähnen, die sie angegrinst hatten, diesem Finger, der …
Sieh ihn an! Der Gedanke schoss ihr ungewollt durch den Kopf. Und er erfüllte sie mit Zuversicht, was sie erstaunte. Sieh ihn an und überzeuge dich davon, dass er nicht das ist, wofür sie ihn halten. Der Gedanke ermöglichte ihr, den Kopf erhoben zu halten, obwohl sie den Drang verspürte, ihn zu beugen. Sieh ihn an und erkenne, dass er nicht das ist, wofür er sich hält. Sie sog tief die Luft ein, saubere Luft. Sieh ihn an. Dann sieht er sie nicht an.
»Vielleicht«, flüsterte sie, »ist mein Zweck, dir all dies zu erzählen.«
Das Feuer in seinen Augen wurde schwächer, durch die roten Flammen zuckten weiße Blitze. Jetzt konnte sie darin etwas
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