Die Tore zur Unterwelt 3 - Verräterische Freunde: Roman (German Edition)
»Vor zwei Tagen hat sie angefangen zu rufen. Seitdem hat sie nicht damit aufgehört.« Er seufzte tief. »Aber das weißt du ja, oder? Du kannst es zwar nicht hören, aber du hast es gesehen. Du weißt, was im Abgrund vor sich geht.« Seine Augen blitzten. »Du weißt, dass sie zurückkommt, so wie ich es weiß. Du kannst dich an sie erinnern.«
Etwas bewegte sich, Staubwolken tanzten im ersterbenden Licht. Mahalar stand nur noch einen Zentimeter von Lenk entfernt und sah den jungen Mann durchdringend an.
»Und ich erinnere mich an dich.«
Lenk erwiderte seinen Blick, solange er es ertrug. Diese Kreatur war alt, älter als der Staub, der bei jedem Atemzug aus ihrem Mund kam. Sie war so alt, dass ihre Haut schon zu Pulver zerfiel, und doch war ihr Blick noch älter und noch unangenehmer als ihr verfaulender Körper. Ihre Augen hatten viel gesehen, zu viel, und selbst dieses winzige bisschen, was sie in dem Moment teilten, als sie Lenks Blick erwiderten, war mehr als genug.
Erkennen lag in ihnen. Sie erkannten nicht Lenk, sondern das, was Lenk war. Mahalar sah hinter alles, was Kataria gesehen hatte, sie sah mehr als alles, was er selbst in sich gesehen hatte. Jeden Tropfen Blut, der ihn befleckte, jeden hasserfüllten Gedanken, der jemals in seinem Kopf geäußert worden war, die Kälte, die durch seinen Körper geflossen war, all das konnte Mahalar sehen.
Mahalar wusste davon.
Und Lenk konnte es nicht ertragen, ihn noch länger anzublicken. Er drehte sich auf dem Absatz herum. Plötzlich erschienen ihm diese lebenden, schreienden Statuen gar nicht mehr so unangenehm.
»Überlege gut, bevor du mich verlässt«, meinte Mahalar tonlos. »Denk an das Gewicht, das du auf deinen Schultern tragen wirst. Überlege, wie viele Chancen du noch bekommen wirst zu fragen.«
Lenk blieb stehen. Er dachte nach. Er seufzte.
»Wenn ich tatsächlich frage«, erwiderte er schließlich, »musst du mir etwas versprechen.«
»Und das wäre?«
»Du musst mir eine offene Antwort geben, ohne irgendwelches kryptische, rätselhafte Gerede und diesen ›Ich-bin-so-alt-und-so-geheimnisvoll-also-muss-ich-nicht-logisch-antworten‹-Quatsch.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Abgemacht?«
Mahalar starrte geradeaus, als würde er überlegen, ob er bereit war, dieses seltene Vergnügen aufzugeben. Am Ende nickte er stumm.
»Und …«, begann Lenk.
Er blickte an Mahalar vorbei zu den fernen Lagerfeuern, zu der einzigen Gestalt mit heller Haut in einem Meer aus Grün. Kataria saß zwischen den Shen, als hätte sie immer dorthin gehört, und lachte über einen Witz, den die Shen offenbar überhaupt nicht lustig fanden. Sie blickte hoch und warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. Ihre Reißzähne schimmerten.
»… das hier bleibt unter uns«, beendete der junge Mann seinen Satz. »Was auch immer du mir sagst, du sprichst mit niemand anderem darüber.«
»Was möchtest du wissen?«
»Du sagtest, du würdest dich an mich erinnern.«
»Das habe ich gesagt.«
»Bedeutet das, dass du weißt …?« Er würgte an den Worten, bis er sie schließlich herausstieß. »… du weißt, was ich bin?«
»Das weiß ich.«
Lenk starrte den uralten Shen einen Moment an. »Also …?«
Mahalar hob langsam seinen Blick. Dann streckte er eine Hand aus und deutete mit einem Finger auf eine einigermaßen unversehrt gebliebene Statue von Ulbecetonth. Dabei gab der Zeigefinger ein widerliches Ploppen von sich, und ein ziemlich großer Hautfetzen fiel herunter. Er flatterte von seinem Finger, landete auf dem Boden und wurde zu Staub.
»Alles begann«, antwortete er, »mit ihr.«
»Verdammt, was habe ich gerade eben noch gesagt?«
Mahalar fuhr unbeirrt fort, als hätte Lenk kein einziges Wort geäußert, weder jetzt noch vorhin. »All das gehörte ihr. Dies hier.« Er stampfte mit dem Fuß auf die Erde. »Das.« Er tippte sich mit der Hand gegen seine Brust. »Damals waren wir noch vereint. Jaga, Teji, Komga … Gonwa, Owauku und Shen. Ein Land, ein Volk. Wir haben unter ihr gelebt. Wir haben durch ihre Gnade geatmet. Ich wurde hier geboren.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, gilt das für die meisten Shen.«
»Ich wurde hier geboren«, erwiderte Mahalar und deutete auf die Erde zu seinen Füßen. »Hier, unter ihren Augen, an ihrem Hof. Das Erste, was ich sah, als ich meine Augen öffnete, war, wie mein Vater diese Statue schuf.«
Lenk sah ihn verwirrt an. »Wie alt bist du?«
»Wenn ich sage ›So alt wie das Lied des Himmels und die Tiefe
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