Die Tortenbäckerin
zu, als das Pferdefuhrwerk den heimatlichen Stall in Altona erreichte. Oliver sprang vom Kutschbock und versprach, so bald wie möglich mit Greta wiederzukommen.
Zunächst beeilte sich Siggo, Max und Moritz abzuschirren und sie in den Stall zu führen. Dann wurden seine Bewegungen langsamer, immer häufiger blickte er die GeorgstraÃe hinauf, ob dort nicht ein Mädchen mit graublauen Augen und rotbraunen Locken auftauchte.
Zeit verstrich. Niemand kam.
SchlieÃlich gab es keinen Grund mehr, noch länger im Stall zu bleiben. Siggo stieg die zwei Treppen hoch zur elterlichen Wohnung, wo die Mutter bereits mit dem Essen wartete und wo der Vater wie jeden Tag am Fenster saÃ, die aufgeschlagene Zeitung ungelesen auf den Knien.
»Hast du Wilhelm den Braten gebracht?«, erkundigte sich Gerlinde.
Siggo setzte sich an den Tisch und nahm sich von den knusprigen Kartoffelpuffern. Seine Mutter hatte sie auf englische Art zubereitet, so wie sie in Hamburg am liebsten gegessen wurden. Mit feingehackten Zwiebeln, die unter die frisch geriebenen Kartoffeln gemischt wurden, und mit Mehl, Ei und Milch dazu, bis ein fester Teig entstand. Während Siggo aÃ, briet seine Mutter schon die nächste Portion in heiÃem Schweineschmalz.
Mit vollem Mund antwortete er ihr. »Ja, und ich helfe ihm auch, einen Ersatz für die kranke Anna zu finden.«
»So? Seit wann kennst du Köchinnen?«
»Nur eine«, entgegnete Siggo schnell und ärgerte sich, weil er dem Blick der Mutter nicht standhalten konnte. »Sie heiÃt Greta Voss und wohnt im Mietshaus am Ende der StraÃe. Ich bin ihr gestern Abend ⦠äh ⦠begegnet.« Es war besser, die genauen Umstände zu verschweigen. Mutter hatte schon genug Sorgen. Wozu sie noch damit aufregen, dass seine Pferde gestern um ein Haar ein Mädchen totgetrampelt hätten?
Gerlinde Freesen lächelte ein schmales Lächeln. Sie war einmal eine schöne Frau gewesen, von mittlerer Statur und mit goldblonden Haaren. Für ihre Zeit hatte sie Bemerkenswertes geleistet. Nie hatte sie vorgehabt, nur Hausfrau und Mutter zu werden. Schon früh hatte sie damit begonnen, in der Conditorei ihres Vaters mitzuhelfen. Dabei stellte sie sich so geschickt an, dass der Vater ihr schlieÃlich gestattete, die heiÃersehnte Lehre zur Conditorin zu absolvieren. Nach ihrer Heirat mit Erik gab sie die Arbeit in der Conditorei jedoch auf, um gemeinsam mit ihrem Mann das Fuhrunternehmen aufzubauen. Als Siegmar zur Welt kam, war sie glücklich, aber insgeheim wünschte sie sich noch eine Tochter, an die sie eines Tages ihr Wissen um Kuchen und Torten weitergeben konnte. Aber es kam kein weiteres Kind mehr, und Gerlinde musste sich damit abfinden.
Der Kummer der letzten Jahre und ihr hartes Leben hatten tiefe Falten in ihr einst so rundes und glattes Gesicht getrieben. Jetzt fuhr sie ihrem Sohn durch das blonde Haar, das er von ihr geerbt hatte. »Dann bekommt der arme Wilhelm endlich wieder warme Mahlzeiten. Du bist ein guter Junge, Siegmar. Habe ich nicht recht, Vater?«
»Ein guter Junge«, wiederholte Erik Freesen tonlos.Siggo beobachtete, wie die Mutter resigniert den Kopf hängen lieà und an den Herd zurückkehrte. Er wollte aufspringen, den Vater packen, ihn hochziehen und so lange schütteln, bis er ihm irgendeine Reaktion entlocken konnte. Wut oder Hass, ganz gleich. Hauptsache, es kehrte wieder Leben in diesen Mann zurück, der nun schon seit Jahren teilnahmslos in der Wohnung herumsaÃ, so ganz ohne Antrieb, wie eine Dampfmaschine mit zersprungenem Schwungrad.
Als Kind hatte Siggo sich vor dem groÃen, starken Vater gefürchtet, und auch als Heranwachsenden hatte ihn diese Furcht nie ganz losgelassen. Aber zu dem Zeitpunkt war es schon die Furcht gewesen, der Vater könnte recht haben und er sei wirklich nur ein Feigling, ohne Mumm in den Knochen, wie sich der Alte auszudrücken pflegte. Doch dann hatte nur ein Oswald Lohmann daherkommen müssen, um aus der übermächtigen Vaterfigur einen gebrochenen Menschen zu machen.
Weder die aufopfernde Liebe seiner Frau noch der hilflose Zorn seines Sohnes hatten Erik Freesen bisher aus seiner Lethargie reiÃen können. Selbst der Arzt hatte nur die Schultern gehoben. »Es gibt da wohl neue Forschungen. Ein gewisser Sigmund Freud in Wien befasst sich mit solchen Fällen. Aber ich verstehe viel zu wenig davon, um bei Ihrem Vater etwas ausrichten zu
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