Die Tortenbäckerin
Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen. Gierig wie ein junger Wolf machte sich Oliver über das Brot aus grobem Korn und den Hartkäse her. Dann knüllte er verschämt das leere Papier zusammen.
»Keine Bange«, sagte Siggo. »Ich habe noch genug dabei. Meine Mutter fürchtet immer, ich könnte vor Hunger sterben. Oder sie denkt, ich müsste noch wachsen.« Miteinem schnellen Seitenblick stellte er fest, dass sich Olivers schmales Gesicht verdüsterte. Er wollte ihn noch einmal nach seiner Familie fragen, aber da erreichten sie den Viehmarkt, und er verschob es auf später.
Er brauchte jetzt seine ganze Konzentration, um das Gespann sicher durch die schmale Gasse zwischen den eingezäunten, mehr oder weniger groÃen Ständen zu bringen. Bauern aus dem Umland hatten Schafe und Schweine, Rinder, Pferde und Federvieh in die Stadt gebracht. Siggo staunte immer wieder über den Lärm, den Mensch und Tier hier veranstalteten. Holzpantinen klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, Peitschen surrten durch die Luft, und an allen Ecken feilschten die Händler lautstark mit den Bauern, bis der Kauf per Handschlag besiegelt wurde. Mutterschafe blökten herzzerreiÃend, als ihre Lämmer in einem Pferch von ihnen getrennt wurden, Schweine grunzten oder quiekten laut auf, wenn ein Händler ihnen mit einem langen Stock in den Hinterschinken stach, um den Fettgehalt zu prüfen. Irgendwo weiter hinten wieherten ein paar Pferde so laut, dass Max und Moritz witternd die Köpfe hoben, und über allem lag ein durchdringender Gestank nach tierischen Ausscheidungen und menschlichem SchweiÃ.
»Pfui Teufel!«, rief Oliver. »Hier stinktâs ja schlimmer als bei mir zu Hause.«
Siggo fragte sich, warum es in der Wohnung des Jungen auch nur annähernd so schlecht riechen sollte, sagte aber nichts. Er hielt jetzt direkt auf die groÃe hölzerne Rinderhalle zu. Dort wartete man schon auf seine Fuhre. »Wurde aber auch Zeit«, schimpfte ein grober Kerl mit rotem Haarkranz und Trinkernase. »Wie soll ich dieViecher an den Mann bringen, wenn die halb verhungert aussehen?«
Siggo antwortete nur mit einem Schulterzucken. Er hatte den Auftrag erst in letzter Minute bekommen, aber das wollte er dem Mann nicht auseinandersetzen. Zwei Halbwüchsige kamen herbeigelaufen und halfen beim Abladen.
Oliver machte sich nützlich, wo er konnte. Er war nicht stark, aber flink, und die beiden Wallache lieÃen sich brav von dem Kleinen halten.
Sobald das letzte Heu vom Wagen war, lieà Siggo seine Pferde wieder anziehen. Max und Moritz brauchten keine besondere Aufforderung. Auch sie waren wohl froh, diesen schrecklichen lauten Ort wieder zu verlassen.
»Wie heiÃt Ihr Freund, den wir besuchen?«, wollte Oliver von Siggo wissen, als er endlich wieder freier atmen konnte. Der Pritschenwagen fuhr jetzt durch eine ruhige Wohngegend. »Und was macht er? Braucht er vielleicht einen Laufburschen?«
»Das musst du Leutnant Podolski schon selbst fragen.«
»Leutnant!« Oliver zuckte ehrfürchtig zusammen, doch als sie wenige Minuten später den Türklopfer am Haus von Wilhelm Podolski betätigten, erschien ein leicht gebeugter weiÃhaariger Herr, der sie freundlich begrüÃte.
Siggo musste über Olivers erstauntes Gesicht grinsen, und auch Wilhelm schmunzelte. »Du hast wohl einen ordengeschmückten General erwartet?«
»Nein«, erwiderte Oliver ernsthaft. »Einen Leutnant.«
»Nun, das bin ich. Allerdings seit einigen Jährchen im Ruhestand.«
»Waren Sie dabei? Beim groÃen Krieg gegen die Franzosen?«
»Natürlich. Von Anfang bis Ende. Ich kenne unseren Reichsgründer und Kanzler Otto von Bismarck persönlich. Wie du vielleicht in der Schule gelernt hast, wurde er vor fünf Jahren von unserem Kaiser entlassen. Lass dir eines sagen, mein Junge: Ohne Bismarck wird es dem Reich früher oder später sehr schlecht ergehen.«
Siggo fand es an der Zeit, einzugreifen. Sie standen noch immer drauÃen, und jeden Moment konnte jemand vorbeikommen, der Wilhelms gefährliche Worte hörte.
»Ich soll dich von Mutter grüÃen und fragen, ob du etwas brauchst.«
Siggos Vater hatte unter Wilhelm Podolski gedient, seitdem gehörte der Leutnant zum Kreis der engeren Freunde der Familie. Er trat zur Seite und winkte die beiden Besucher herein. Dann ging er voraus in die Stube, bot ihnen Platz an
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