Die Tortenbäckerin
sollte schlieÃlich jede Gelegenheit ausnutzen.
Doch kaum eine Minute später vergaÃen die vier Menschen in der guten Stube ihre eigenen Gedanken und Hoffnungen. Denn da stürmte ein halbwüchsiger Mann herein und bekam kaum Luft, so schnell war er gerannt. Siggo erkannte den Sohn des Schusters, der mit seiner Familie im gleichen Mietshaus wie Greta wohnte. Hannes hieà er.
Greta wurde augenblicklich kreidebleich. Ihre Hand in seiner verwandelte sich in Eis.
»Mathilde schickt mich!«, rief Hannes keuchend. »Sie sollen sofort kommen.«
Greta schrie leise auf. »Was ist geschehen? Ist sie krank? Hatte sie einen Unfall?«
Der Schusterjunge schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Sie hat den kleinen Oliver gefunden. Er ist tot. Sie sollen helfen, ihn ins Krankenhaus zu bringen.«
Siggo sprang auf und war mit zwei Sätzen an der Tür. Während er die Treppe hinunter und raus auf die StraÃe lief, klammerte er sich an einem einzigen Gedanken fest:Der Hannes muss sich irren, einem toten Jungen kann auch im Krankenhaus niemand mehr helfen.
Kurz überlegte er, Moritz anzuspannen, sein schnellstes Pferd im Stall. Doch die StraÃen waren mit feiernden Menschen verstopft, und selbst mit dem schmalen Einspänner würde es kein Durchkommen geben. Er würde zu Fuà bis zur WilhelmstraÃe und dann in die HospitalstraÃe laufen müssen â mit einem Kind in seinen Armen, das nicht sterben durfte. Nicht Oliver! Nicht dieser Junge, der ihm seit Wochen zur Hand ging, ohne je mehr zu verlangen als mal einen Groschen, mal ein Käsebrot. Der so viel dünner und blasser wurde, ohne dass Siggo sich die Zeit nahm, wenigstens zu fragen, was ihm fehlte.
Die Kälte stach mit spitzen Pfeilen in seine Lungen. Siggo achtete nicht darauf, erreichte das Mietshaus, rannte nach oben.
Im Altonaer Krankenhaus arbeitete in der Silvesternacht nur eine Notbesetzung. Ein halbes Dutzend Schwestern und zwei Ãrzte kümmerten sich um die Kranken, versorgten Schusswunden bei Männern, die mit ihren Gewehren den Jahreswechsel gefeiert hatten, und lieÃen Betrunkene von der Polizei abführen. Als jedoch ein groÃer blonder Mann hereingestürmt kam und laut um Hilfe rief, verharrten der junge Doktor Behrend und die erfahrene Krankenschwester Magda mitten in ihrer Arbeit. Wie gelähmt schauten sie einen Moment lang auf das halbverhungerte und augenscheinlich erfrorene Kind in den Armen des Mannes.
»Ich bin Siegmar Freesen. Und das ist Oliver Kuhn, mein ⦠mein Lehrling. Sie müssen ihn retten!«
Schwester Magda reagierte zuerst. Sie hatte einige Jahre lang am Hamburger Amerika-Kai gearbeitet und unter den Kindern der verarmten Auswanderer ganz ähnliche Fälle gesehen.
»Geben Sie her«, sagte sie energisch und nahm das erschreckend leichte Menschenbündel auf die Arme. Das Kind gab kein Lebenszeichen von sich. Obwohl sie schon so viel Elend in ihrem Leben gesehen hatte, rührte dieser Anblick an ihr Herz.
»Warten Sie hier«, befahl sie noch dem blonden Riesen und verschwand eilig in Richtung Krankensaal. Der Arzt folgte ihr zögernd.
Siggo sackte an der Wand zusammen. Eine halbe Stunde hatte er bis hierher gebraucht. Eine entsetzlich lange halbe Stunde! Schweià rann ihm den Rücken hinunter, und sein Puls beruhigte sich nur langsam. Er fühlte sich verloren und hilflos wie noch nie in seinem Leben. Wenn Oliver tot war, dann würde er sich das niemals verzeihen.
Erschöpft legte er die Stirn auf die Knie und versuchte zu beten. Es gelang ihm nicht.
Er fühlte Gretas Anwesenheit, bevor er sie sah. »Wie geht es ihm?«, fragte sie leise.
Siggo schüttelte hoffnungslos den Kopf, aber er war froh, nicht mehr allein zu sein. Mit Greta an seiner Seite war alles zu ertragen.
Sanft zog sie ihn auf die FüÃe und brachte ihn zu einer Holzbank. Dort saÃen sie nebeneinander, viel zu nah, um die Grenzen der Schicklichkeit zu wahren, doch es kümmerte sie nicht. Beide brauchten die Nähe des anderen,beide spürten, dass das feste Band zwischen ihnen der einzige Halt war, den sie in dieser langen kalten Nacht finden konnten.
Irgendwann sackte Gretas Kopf an Siggos Schulter, und er zog sie in seine Arme, damit sie bequemer schlafen konnte. Ihre Herzen schlugen im gleichen Takt, während drauÃen ein fahler Januartag anbrach. Der erste Tag des Jahres 1896.
Schwester Magdas befehlsgewohnte Stimme lieà sie
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