Die Tortenbäckerin
richte dem kleinen Oliver meine besten GrüÃe aus.« Greta hatte ihr angesehen, was ihr durch den Kopf ging: Wie leicht hätte ihr eigener Sohn früher in eine ähnlich schlimme Lage geraten können. In diesen schweren Zeiten war es die Furcht einer jeden Mutter, ihr Kind könnte eines Tages ganz auf sich allein gestellt sein und den harten Lebenskampf verlieren.
Sogleich musste Greta an Leni denken, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Ihre Tochter war zwar nicht ganz allein auf der Welt, aber es ging ihr nicht gut.
Um sich abzulenken, beobachtete sie den Freund von der Seite. Die Sorgen um den Vater und um das Geschäftspiegelten sich in seinem Gesicht wider, aber auch das reine Glück, weil Oliver viel kräftiger wirkte. Oder hatte sein Strahlen etwas mit ihr selbst zu tun? Nein, dachte sie, das darf nicht sein. Er darf mich nicht lieben, mein Herz ist nicht frei. Es mochte ja stimmen, dass sie sich in der Silvesternacht nähergekommen waren, als sie um Olivers Leben gebangt hatten. Doch ihre Sehnsucht galt noch immer Christoph. So lange war er jetzt schon fort. Seit Mitte November. Inzwischen war ein neues Jahr angebrochen, und es würden noch ein ganzer Winter, ein Frühling und ein Sommer vergehen, bis sie auf seine Rückkehr hoffen durfte. Eine unendlich lange Zeit, aber Greta war entschlossen, sie zu überstehen. Sie seufzte leise und rief sich Christophs Gesicht vor Augen. Wie schon so oft fiel es Greta schwer, sich an seine Züge zu erinnern. Wenn sie wenigstens ein Bild von ihm gehabt hätte! Eine kolorierte Miniatur vielleicht, die sie in einem Medaillon über dem Herzen tragen konnte. Jeden Morgen könnte sie das Bild dann anschauen und sich an Christoph erinnern, jeden Abend würde ihr letzter Blick dem feinen Antlitz des Geliebten gelten.
Noch einmal schaute sie Siggo an, und auf einmal fragte sie sich, was Christoph Hansen wohl in der Silvesternacht getan hätte, falls er sich in einer ähnlichen Situation befunden hätte. Wäre er losgelaufen, um einen armen Jungen zu retten? Ohne sich die Zeit zu nehmen, Mantel und Stiefel anzuziehen? Ohne überhaupt eine Sekunde zu zögern? Nein, gab sie sich selbst die Antwort. Christoph hätte vermutlich einen Diener geschickt, der sich um die lästige Unterbrechung kümmern sollte. Sie erschrak, weil sie so schlecht von dem Mann dachte, den sie doch liebte,und sah schnell zu ihrer Tante hinüber, die eindringlich auf Oliver einredete.
Der Junge sah heute wirklich schon viel besser aus. Seine Augen glänzten nicht mehr vor Fieber, sein Gesicht hatte ein wenig Farbe bekommen, und der Husten klang frei. Nicht mehr so trocken und bellend wie noch vor zwei Tagen. Nicht so entsetzlich hoffnungslos wie der Husten ihrer Mutter im letzten Herbst.
Für einen Moment war Greta abgelenkt. Sie ging zum Fenster im Krankensaal der Jungen und sah auf einen winzigen Hinterhof hinaus. Kein Baum stand hier, kein bisschen Grün konnte in der warmen Jahreszeit die kleinen Patienten erfreuen, kein Blumenduft vertrieb den Geruch nach Lysoldämpfen und Ãther.
Greta erinnerte sich an die Postkarte, die sie vor einem Monat von Viola bekommen hatte. Selbst wenn die aufgetragenen Farben übertrieben waren, so wusste sie doch, dass dort in den bayerischen Alpen nicht nur die gute Luft, sondern auch die schöne Natur bei der Genesung helfen konnte. Genesung?, fragte sie sich im nächsten Moment voller Zweifel. Durfte sie wirklich darauf hoffen, dass Viola wieder ganz gesund wurde? Alle Vernunft sprach dagegen, dennoch wollte Greta an dieser Hoffnung festhalten. Es war alles, was sie hatte. Die Frage war nur, wie lange Viola noch in dem Sanatorium bleiben musste. Für Greta wurde es immer schwieriger, die Kosten dafür aufzubringen. Sie selbst verzichtete auf jede Annehmlichkeit. Hauptsache, Viola musste nicht zurück nach Altona kommen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Und Hauptsache, Greta bekam das Geld für die Krögers zusammen, damit Leni es gut hatte. An diesem Punkt ihrer Ãberlegungen wandtesich Greta schnell vom Fenster ab. Es schmerzte zu sehr, an Leni zu denken. Ihr ging es eben nicht gut bei den Krögers, ganz gleich, ob Greta zahlte oder im Rückstand war. Das Kind verkümmerte, und Greta fühlte sich unendlich hilflos. Seit Weihnachten hatte sie keine Zeit mehr gefunden, ihre kleine Tochter zu besuchen. Im Hause der Familie Klasen wurde fast jeden Tag ein Fest
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