Die Tortenbäckerin
Kartoffelsalat und eine Fleischpastete. Dies hatte Gerlinde vorgekocht.
»Ganz schön hinterhältig«, bemerkte Greta und lachte über Siggos betroffenes Gesicht.
Rasch entkorkte er die Weinflasche und reichte ihr ein Glas. »Ich dachte, es würde dich freuen, einmal mit mir zu essen. Seit du mit der Arbeit hier begonnen hast, sehen wir uns so gut wie gar nicht mehr.«
»Stimmt schon.« Zu ihrer Ãberraschung stellte Greta fest, dass Siggo ihr gefehlt hatte. Sie bemerkte jedoch auch, dass ihn etwas bedrückte.
»Was ist?«, fragte sie leise.
»Oswald Lohmann ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden«, gab er zurück. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen.«
»Oh.« Der Schreck fuhr ihr in die Glieder, aber sogleich erinnerte sie sich an den schlimmen Unfall. »Kaum zu glauben, dass er überlebt hat.«
»Mehr schlecht als recht, würde ich sagen. Beide Beine mussten amputiert werden. Er lässt sich von einem jungen Burschen im Rollstuhl herumfahren und klagt sein Leid jedem, der es hören will, und auch jedem, der es nicht hören will. Er gibt natürlich uns die Schuld an seinem Unglück, und er verflucht uns bis ans Ende unserer Tage. Es scheint jedoch, dass er auch im Geist verwirrt ist. Du musst keine Angst mehr vor ihm haben. Er ist ein gebrochener Mann.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte sie. »Vielleicht sollte ich Befriedigung über sein Schicksal empfinden, doch es gelingt mir nicht. Ich empfinde gar nichts.«
Sie vergaà Lohmann, stieà mit Siggo an und sah ihm dabei in die Augen. Sein Blick wurde sanft, als er einen Schritt auf sie zu machte. Seine Lippen wirkten weich und samtig. Greta handelte wie im Traum. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und berührte seine Lippen mit ihrem Mund. Mit einer Hand hielt sie sich an seinem Arm fest. Sie konnte das Muskelspiel unter seinem Hemd spüren. Ein Zittern durchlief ihren Körper, es bestand aus Angst, aber auch aus etwas anderem, das Greta nicht zu benennen vermochte. Siggos Atem strich wie eine Liebkosung über ihre Wangen. Er forderte nichts, riss sie nicht an sich, überlieà ihr die Führung.
Für Sekunden vergaà Greta alle bösen Gedanken, alle schlimmen Erinnerungen. Dann kehrten sie mit Macht zurück. Damals, der Schmerz, die Scham, die harten StöÃe, die sie entzweiteilten. Ein Schleier legte sich vor ihre Augen, die Spannung in ihrem Körper lieà nach, etwas in ihr verwandelte sich in Eis. Selbst dieser zarte Kuss überforderte ihr gequältes Herz. Sehnsüchtig wollte sie Liebe empfinden, hilflos empfand sie nur die Leere in ihrem Innern.
»Greta«, murmelte Siggo, und Verzweiflung klang in seiner Stimme mit. Sie spürte, er wartete einzig auf ein Zeichen der Zuneigung. Auf einen Blick aus ihren Augen, der ihm sagte, dass er sich diesen Moment eben nicht eingebildet hatte.
»Lass mich«, flüsterte sie. »Bitte. Ich ⦠ich kann nicht. Gib mir Zeit.«
Da lächelte er, und alle Liebe dieser Welt stand in seinem Lächeln. »Bis wir hundert Jahre alt sind, meine Liebste. Ich werde immer da sein und auf dich warten. Und nun wollen wir essen.«
Dankbar erwiderte sie sein Lächeln. Gleich darauf machten sie sich über das Mahl her.
Siggo aà schweigend und mit gutem Appetit. Doch die ganze Zeit über beobachtete er Greta aus den Augenwinkeln. Sie hatte ihn geküsst. Wirklich und wahrhaftig geküsst. Seine Lippen brannten noch von ihrer leichten Berührung, sein Herz wollte schier seine Brust sprengen. Es hatte ihn übermenschliche Anstrengung gekostet, ruhig zu bleiben, als sie sich ängstlich von ihm zurückzog. Seit er Greta kannte, hatte er sich gefragt, was für ein Mädchen sie einst wohl gewesen war. Ein Mädchen mit einem sprungbereiten Lachen in den Mundwinkeln und dem Glanz der furchtlosen Jugend in den Augen. Heute hatte er einen kurzen Blick auf dieses Mädchen geworfen. Es war der glücklichste Moment in seinem Leben gewesen.
»Mensch, kapier doch! Da ist keiner zu Hause. Das Vögelchen ist ausgeflogen. Pech gehabt.« Paul bohrte ausgiebig in der Nase und gab sich so gleichmütig, wie es ihm eben noch möglich war.
Oliver allerdings bemerkte das rasende Zucken unter Pauls rechtem Auge. Ein klares Anzeichen dafür, dass der Freund Angst hatte und verschwinden wollte. Harry und Olaf gaben sich weniger Mühe, ihre Furcht zu
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