Die Tortenkönigin: Roman (German Edition)
ich mich, wenigstens für eine Stunde? Dieser Blick bis zum Horizont, wo Wasser und Himmel zu einer diffusen Linie verschwammen, war das Schönste, das ich überhaupt kannte.
Weil die Strecke mit dem Fahrrad doof zu fahren ist, antwortete ich mir selbst. Es gab auf dem Großteil der Strecke keinen Radweg, und die Dorfjugend und die Touristen pflegten mit einer derartigen Geschwindigkeit über die Landstraße zu rasen, dass ich Angst um Leib und Leben hatte, so einfach war das.
Ich stellte das Auto auf dem Parkplatz oben am Weg zum Außenhafen ab und ging auf dem Deich zurück zur Treppe, die an den Strand führte. Die beiden Kassenhäuschen waren noch geschlossen, aber ich wusste, in nicht einmal zwei Stunden würden hier lange Menschenschlangen stehen. Männer, Frauen und Kinder, bepackt mit Radios, Lesestoff, Kühltaschen, Badelaken, Surfbrettern, Sonnenschirmen, Fußbällen, Schlauchbooten, Luftmatratzen und allem anderen, was zu einem Tag am Strand gehörte.
Vor zig Jahren hatte ich während der Sommerferien mal nicht in der Konditorei, sondern in dem großen Kiosk am FKK-Strand gejobbt, Softeis, Sonnenmilch und Brühwürstchen verkauft und mir von meinem Vater abends immer wieder die Frage stellen lassen, wo die FKKler denn ihr Wechselgeld wohl verstauten, was meine Oma jedes Mal zum Augenrollen und meine Mutter zum empörten Luftschnappen gebracht hatte.
Die Treppe zum Strand hinunter hatte breite, flache Stufen. Ich stapfte durch den tiefen, feinen Sand bis zum Wasser, das sich gerade zurückzuziehen begann, nachdem vor einer Stunde Hochwasser gewesen war, wie ich dem Anschlag am Kassenhäuschen entnommen hatte. Es war noch recht kühl, also entschied ich mich dagegen, Schuhe und Socken auszuziehen, zumal ein frischer Wind ging. Später, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, würde es deutlich wärmer sein, und der Wind würde willkommene Kühlung bedeuten.
Die Nordsee brandete an den Strand und hinterließ beim Zurückfließen eine breite Spur aus Gischt. Es roch nach … nach … nun ja, nach Nordsee eben. Etwas salzig, ein wenig fischig, aber nicht unangenehm.
Das Wasser hatte sich schon um einen halben Meter zurückgezogen, sodass ich auf festem, nassem Untergrund lief. Die Hochwasserlinie wurde markiert durch das, was das Meer immer zurückließ, wenn die Ebbe einsetzte: kleine Haufen von Tang unterschiedlichster Art, hellgrün mit wassergefüllten Blasen oder dunkelgrün und glatt wie Grashalme, durchmischt mit Vogelfedern, Muscheln, Zweigen und kleinen toten Krebsen.
Ich stapfte vorwärts, den Blick auf den Boden gerichtet. Ab und zu blieb ich ein paar Minuten lang stehen und sah einfach nur aufs Meer hinaus, auf die Wellen, die unermüdlich heranbrandeten und sich wieder zurückzogen, endlos, ohne Unterbrechung, seit wahrscheinlich Millionen von Jahren. Das Wasser wirkte heute durch den klaren Himmel und die helle Sonne dunkelblau und nicht grau wie sonst oft. Grau und unergründlich, nicht so transparent und Vertrauen erweckend wie eine tropische Lagune, in der man bis zum Meeresboden sehen konnte.
Ich bückte mich und buddelte einen halb vergrabenen, bernsteingelben Stein aus dem Sand, der die Form von Helgoland hatte, wie ich feststellte, als ich ihn in der Hand hielt. Ich wischte den Sand ab, steckte ihn in meine Anoraktasche und setzte meinen Spaziergang fort.
Hatte ich mir tatsächlich eingebildet, die Trennung von Leon überwunden zu haben? Durch die räumliche Trennung fiel es mir leichter, klar, und durch die Tatsache, dass ich in Marie verständnisvolle Gesellschaft fand, ebenfalls. Aber heute Morgen hatte ich wieder gemerkt, wie wenig nachhaltig diese vermeintliche Verarbeitung gediehen war. Ich war mit Tränen in den Augen aufgewacht, hatte mich verwundbar und schwach gefühlt. Da konnte ich mir tausendmal am Tag das Mantra »Nach vorn sehen, nach vorn sehen« einhämmern und so wunderbare Dinge wie Patricks Auftrag erleben, und dann wachte ich morgens auf und fühlte mich klein.
Aber mit jedem Meter, jedem Schritt spürte ich meinen Kopf klarer werden, meine Traurigkeit und meinen Zorn weichen, und als ich wieder in Maries Auto stieg, hatte ich tatsächlich gute Laune.
Marie saß am Küchentresen, trank Kaffee und las die Tageszeitung. »Moin. Ich hoffe, du hast Brötchen mitgebracht«, sagte sie mit vom Schlaf noch belegter Stimme, ohne Zeit mit sinnlosen Höflichkeiten zu verschwenden. Sie konnte noch nicht lange wach sein.
Als Antwort hielt ich erst die
Weitere Kostenlose Bücher