Die Tortenkönigin: Roman (German Edition)
Küchentisch. Sie drehte sich zu mir um, und zum ersten Mal sah ich ihr an, dass sie bereits weit über achtzig war. Was wusste ich eigentlich über ihren Gesundheitszustand?
Nichts.
Meine Oma war niemand, der wegen irgendwelcher Zipperlein klagte. Ich hatte sie noch nie jammern hören. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals wegen Krankheit im Laden gefehlt oder unser Mittagessen nicht gekocht hatte. Natürlich war nicht nur ich, sondern auch sie im Laufe der Jahre immer älter geworden, logisch, ich war ja nicht blöd.
Aber sie schien immer so lebhaft und gesund, war viel unterwegs, hatte sich erst im letzten Jahr ein neues Auto gekauft …
Ich zwang mir ein fröhliches Lächeln ins Gesicht.
»Hallo, Omi! Gute Neuigkeiten!«
Ich berichtete von Patrick und seinen Ideen für die Modeaufnahmen, von unserem Treffen am vorangegangenen Abend und davon, wie gut wir uns auf Anhieb verstanden hatten.
Ihr Gesicht leuchtete auf, und sie umarmte mich herzlich.
»Helene, wie schön! Siehst du, so hat es doch ein Gutes, dass du nach Hause gekommen bist.«
»Stimmt. Paps freut sich auch, der alte Brummelkopp. Ich werde während der nächsten Zeit viel Arbeit haben!«
»Schöne Arbeit«, wandte sie ein.
»Wunderschöne Arbeit! Mit diesem Auftrag geht ein Traum in Erfüllung, weißt du?«
Sie lächelte. »Natürlich weiß ich das. Du bist kreativ, du hast Fantasie, du wirst Meisterstücke abliefern. Du kannst übrigens jederzeit meinen Wagen benutzen, ich brauche ihn im Moment nicht. Das heißt, eine Bedingung gibt es: wenn ich einen Arzttermin habe.« Sie sah mich liebevoll an und sagte leise: »Ich bin glücklich, dass ich das noch erleben darf, Helenchen.«
Den Schreck, der mir bei ihren Worten in die Glieder fuhr, spürte ich wie einen Stromstoß. »Was … was meinst du damit?«, stammelte ich entsetzt.
Sie biss sich auf die Unterlippe, als würde sie sich ärgern, diese Bemerkung gemacht zu haben. Dann winkte sie lässig mit der Hand ab und sagte: »Ach, du weißt doch, wie wir alten Leute reden. Wir denken immer, wir stehen mit einem Bein im Grab. Mach dir keine Gedanken.«
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte ich dennoch.
»Aber ja.«
»Und dein Auto? Das brauchst du doch selbst. Ich kann mir auch das von Marie leihen, das ist kein Problem.«
Sie schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage. Du brauchst einen fahrbaren Untersatz, mit dem du unabhängig bist. Der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett, die Papiere habe ich hier.«
Sie zog die Schublade vor ihrem Bauch auf, und ein Fläschchen kollerte in mein Blickfeld. Obwohl sie sofort die Hand darüber deckte, hatte ich die Aufschrift lesen können: Morphium. Sie kramte ein wenig herum und hielt mir schließlich den Fahrzeugschein und den Fahrzeugbrief hin.
»Am besten, wir melden ihn sofort auf deinen Namen an«, murmelte sie, »dann gehört er dir, und niemand kann ihn dir wegnehmen, wenn …« Sie verstummte.
»Wenn? Wenn was passiert?«
Sie reagierte nicht und sah an mir vorbei aus dem Fenster. Jetzt fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen.
»Oma? Was ist los?«
Sie schreckte hoch, als hätte sie geschlafen. »Hm?«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich sagte ich: »Ich bezahle dir den Wagen. Ich will ihn nicht als Geschenk.«
Sie lachte. »Blödsinn. Was soll ich in meinem Alter noch mit dem Geld? Ich habe mehr, als ich noch ausgeben kann, bevor ich sterbe. Ich würde dir den Wagen sowieso vermachen. Und ehe deine Schwester oder deine Mutter deswegen Theater machen, schenke ich ihn dir eben jetzt schon. Basta.«
Ich holte Luft und wollte protestieren, aber sie hob die Hand, um mich zu stoppen.
»Helene, ich dulde keine Widerrede. Ich habe große Freude daran, dass du wieder hier bist und dich mit deinem Vater versöhnt hast. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, nachdem du damals gegangen bist.«
Sie erhob sich mühsam vom Stuhl, indem sie sich schwer auf dem Tisch abstützte. Es drängte mich, ihr zu helfen, aber irgendetwas hielt mich zurück. Ich ahnte, sie würde es nicht wollen.
»Ich lege mich für ein Stündchen hin«, sagte sie leise und verließ mit müden Schritten die Küche.
Nachdenklich ging ich zurück in die Backstube. Mein Vater war damit beschäftigt, Tortenböden aus dem Ofen zu holen.
»Paps?«
Er hielt inne und sah mich an. »Ja?«
»Was ist mit Oma los?«
Er wandte sich rasch ab und machte mit seiner Arbeit weiter. »Wieso fragst du?«, murmelte er zur offenen Ofentür
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