Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
zufällig irgendwo.«
»Wenn du noch lange zögerst, ist Papa schon bei Andresen eingetroffen. Und wenn er dann mitbekommt, dass Anna Rocchi anruft, will er selber mit ihr reden. Und was dann?«
Kleinlaut griff Mamma Carlotta zum Telefonhörer und wählte die Nummer, die Carolin ihr auf einen Zettel geschrieben hatte. Als am anderen Ende eine barsche Stimme »Andresen« in den Hörer hustete, war sie auf alles vorbereitet.
»Hier ist Anna Rocchi!«, rief sie viel zu laut und viel zu exaltiert in den Hörer. »Mein tief empfundenes Beileid, Herr Andresen. Ich bin erschüttert über den Tod Ihrer lieben Frau. Als ich es in der Zeitung las, war ich fassungslos. Dieses schreckliche Ende, diese Tragödie! Und die arme Bambina …«
Felix und Carolin drückten mit aufgeregten Handzeichen ihre Melodramatik zu Boden, und Mamma Carlotta begriff, dass sie sich soeben zu weit von ihrer einstudierten Rolle entfernte. Mit moderater Stimme fuhr sie fort: »Sicherlich ist das Geschäft aufgrund des Trauerfalls geschlossen?«
Andresens Stimme war so schneidend, dass Felix und Carolin mühelos mithören konnten. »Nein, ich halte den Laden geöffnet. Sie wissen doch, Frau Rocchi, Arbeit ist die beste Medizin. Ich habe gestern vergeblich auf Sie gewartet. Wo waren Sie?«
»Ach, Signore!« Fest drückte Mamma Carlotta die Nasenflügel zusammen. »Ich musste das Bett hüten. Eine schwere Erkältung. So schwer, dass ich nicht einmal aufstehen konnte, um Sie anzurufen. Auch heute kann ich noch nicht aus dem Haus gehen, aber Montag dürfte ich wiederhergestellt sein.«
»Also gut«, brummte Andresen, der sich keine Mühe gab, seine Verärgerung zu verhehlen.
»Ich bringe dann auch alle Rezepte mit«, ergänzte Mamma Carlotta eilig, »damit Sie das italienische Angebot weiterführen können, wenn ich abgereist bin.«
»Also gut. Dann bis Montag.«
Mamma Carlotta hatte das Gefühl, dass noch etwas in der Leitung zwischen Westerland und Wenningstedt schwebte, etwas Ungesagtes, worauf sie zum Glück vorbereitet war, ohne dass Andresen es ahnen konnte.
Und da kam es auch schon: »Wo wohnen Sie eigentlich, Frau Rocchi? Ich wollte Sie aufsuchen, um Sie zu bitten, heute Morgen sehr früh im Geschäft zu erscheinen. Aber ich konnte Sie im Dünenhof zum Kronprinzen nicht finden.«
»Kein Wunder«, zwitscherte Mamma Carlotta und vergaß vor lauter Eifer, sich die Nase zuzuhalten. »Ich wohne ja nicht im Dünenhof, sondern im Haus daneben.« Erschrocken setzte sie wieder die Nasenklammer an, als beide Kinder mit zugehaltenen Nasen vor ihr herumsprangen. »Das haben Sie vermutlich falsch verstanden. Mein mangelhaftes Deutsch!«
»Mag schon sein«, kam es zurück. »Dann also bis Montag.«
Mamma Carlotta stand noch mit zugehaltener Nase da, als sie den Hörer längst auf die Gabel zurückgelegt hatte.
»Cool!«, rief Felix. »Das hat er geschluckt.«
Carlotta riss sich zusammen. »Warum auch nicht? Was habe ich überhaupt mit diesem Mann zu tun? Gar nichts! Bin ich ihm verpflichtet? Nur, weil er mir zweimal zehn Euro in die Hand gedrückt hat? Nein! Ich kann machen, was ich will. Andresen soll froh und dankbar sein, dass ich ihn auf die Idee gebracht habe, italienische Vorspeisen anzubieten. Wenn er demnächst gute Umsätze erzielt, dann hat er das mir zu verdanken! Sì!«
»Und er kann ja nicht ahnen, was du weißt«, fügte Carolin hinzu. »Er wird jetzt glauben, dass er dich falsch verstanden hat.«
Mamma Carlotta zupfte Carolin zum dritten Mal an diesem Morgen eine Strähne aus der Frisur. »Ach, Carolina«, seufzte sie, »was bist du doch für ein kluges Mädchen!«
Und da ihr nun schlagartig die Überzeugung kam, dass ihr mit einer so klugen Enkeltochter und einem derart erfindungsreichen Enkelsohn nichts geschehen könne, schlug sie die Hände zusammen und beschloss: »Jetzt wird fürs Abendessen eingekauft! Lasst uns überlegen, was wir kochen wollen. Es muss ein Festessen werden. Schließlich erfahren wir heute Abend, wer der Mörder ist!«
Erik fühlte sich müde und abgespannt, als er nach Hause kam. Aber er wusste, das hatte nichts mit seiner körperlichen Verfassung zu tun, sondern hing damit zusammen, dass der Tag ergebnislos verlaufen war. In dem Zimmer hinter dem Perlenschnurvorhang, in dem Ulla Andresen seit Wochen den größten Teil des Tages und auch der Nacht zugebracht hatte, war nichts aufgetaucht, was sie weitergebracht hätte.
Auf dem Nachhauseweg hatte er noch einmal zusammen mit Sören alle
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