Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
macht einen melancholisch.«
Carolin drückte sich in die Küche, blass und wortkarg wie immer. Ohne den Blick zu heben, ließ sie sich am Tisch nieder, legte einen Schnellhefter neben den Teller und vertiefte sich in ihre Aufzeichnungen.
»Schreibst du heute deine Klausur?«, fragte Mamma Carlotta mitleidig und zupfte ihrer Enkelin heimlich eine Haarsträhne aus dem Zopfband.
Carolin nickte. »Ich muss mir noch ein paar Sätze einprägen, damit ich sie nachher nicht vergesse.«
»Dann musst du sie laut vorlesen«, erklärte Felix. »Was man ausgesprochen hat, prägt sich besser ein, hat meine Englischlehrerin gesagt.«
»Also gut«, begann Carolin. »Der Wolf ist die Perfektion des Bösen. Aber auch im Bösen steckt ein Kern, der aus der Sehnsucht nach Ordnung entsteht. In der Psychologie spricht man auch dann von einem erreichten Ziel, wenn sich das Ziel ins Gegenteil verkehrt hat. Im bösen Wolf kann also möglicherweise auch ein Verfechter der Ordnung stecken.« Sie sah ihre Großmutter fragend an. »Das ist doch ein interessanter Aspekt, findest du nicht auch?«
Mamma Carlotta dachte nach. Was Carolin gesagt hatte, sprach etwas in ihr an. Etwas, was ihr wichtig erschien, etwas, was zu einer neuen Erkenntnis führen konnte, etwas, was ans Licht wollte, aber den Dunst des Vergessens nicht durchbrach.
Nachdem die Kinder zur Schule aufgebrochen waren, ging Mamma Carlotta ins Wohnzimmer und schaffte dort etwas Ordnung. Sie legte die Wolldecke zusammen, schüttelte Eriks grüne Kissen auf und platzierte sie in den Sofaecken, so, wie er es gern hatte. Das Fotoalbum jedoch blieb weiterhin aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch liegen. Dann zog sie sich Eriks warme Jacke über und holte das Fahrrad. Die kalte Luft würde ihr guttun.
Als sie die Ladentür von Fisch-Andresen öffnete, hatte sie ihre Melancholie überwunden. Sie ging in die Fischküche und band sich eine große Schürze um. Es dauerte nicht lange, da erschien Wolf Andresen hinter ihr und sah ihr wieder so misstrauisch bei der Arbeit zu, als befürchtete er, sie könnte ein paar Tintenfischringe in ihrer Handtasche verschwinden lassen.
»Wie geht es Saskia?«, fragte Mamma Carlotta leise, obwohl sie wusste, dass Andresen auf diese Frage einschlagen würde wie ein Arachnophobiker auf eine Spinne, die sich längst nicht mehr rührte.
Aber diesmal blieb er ganz ruhig. »Der Arzt sagt, sie stabilisiert sich allmählich. Vielleicht kann ich nächste Woche mit ihr nach Boston fliegen.«
Er schien noch etwas anfügen zu wollen, aber in diesem Augenblick schepperte die Ladenglocke gleich mehrmals hintereinander. Ein paar Lkw-Fahrer der benachbarten Spedition waren alle gleichzeitig auf die Idee gekommen, sich bei Andresen mit Fischbrötchen einzudecken, statt vor der nächsten Gosch-Filiale lange nach einem Parkplatz zu suchen. Mit Wolf Andresens Ruhe war es vorbei. Es fehlte ihm an Matjes- und Rollmops-Brötchen, die er noch nicht in ausreichender Menge vorbereitet hatte.
Mamma Carlotta beschloss, den Abfall zu den Mülltonnen zu tragen, damit Andresen nicht auf die Idee kam, sie mit diesen Arbeiten zu beauftragen. Sie war für italienische Antipasti zuständig und nicht für diese glitschigen, übel riechenden Fische, die sie in Italien höchstens zum Verscheuchen von Ungeziefer verwenden würde. Nein, Andresen musste einsehen, dass er Mitarbeiter brauchte, die Björn Mende ersetzten und auch seine Frau, die immer dann, wenn Saskia ruhig war, im Laden ausgeholfen hatte. Anna Rocchi würde nur noch heute seinen Antipasti-Vorrat vergrößern, ein allerletztes Mal. Dann war Schluss.
Sie klapperte draußen eine Weile mit den Mülltonnen herum, mit dem festen Vorsatz, erst wieder in Andresens Rufweite zu erscheinen, wenn die Lkw-Fahrer den Laden verlassen hatten. Ihr Blick fiel auf die Tür, die vom Garten in den Raum führte, wo Ulla Andresen ihre letzten Lebenswochen zugebracht hatte. Sie war nur angelehnt.
Mamma Carlotta drückte die Tür auf und machte zwei Schritte in den Raum hinein. Durch den Perlenschnurvorhang am anderen Ende des Zimmers konnte sie die Lkw-Fahrer sehen und ihre Stimmen hören. Sie redeten darüber, ob es Sinn habe, auf die Rollmopsbrötchen zu warten, oder ob man sich stattdessen mit einem Hamburger in einer Autobahnraststätte begnügen solle.
Mamma Carlotta betrachtete den Raum, Saskias Bett, den Sessel, in dem Ulla ihre letzte Zeit verbracht hatte, das Märchenbuch, das immer noch auf dem Tischchen lag. Stets griffbereit.
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