Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
wusste sie, wie die Welle sich bildete, wie sie sich erhob, den Bauch einzog, den Rücken beugte, sich tief verneigte und sich dann überschlug. Es war etwas Zwangsläufiges – das Meer konnte nicht anders. Die Wellen mussten ansteigen und in sich zusammenbrechen. Sie mussten auslaufen und zurückströmen. Mamma Carlotta konnte sich daran nicht sattsehen.
Aber dann fiel ihr ein, warum sie so früh mit dem Fahrrad unterwegs war und dass sie bereits am Rand von Westerland angekommen war. Den Kindern hatte sie, kaum dass Erik aus dem Hause war, erzählt, was sie vorhatte. Sie brauchte Felix’ und Carolins Unterstützung. Wenn die beiden ihr nicht halfen, konnte der Plan nicht gelingen. Denn wenn Erik davon Wind bekam … Mamma Carlotta mochte diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken. Und doch war sie sicher, dass es richtig war, was sie plante. Felix war natürlich sofort Feuer und Flamme gewesen, die vernünftige Carolin jedoch war nicht so schnell zu überzeugen gewesen.
Hinter der Theke bei Fisch-Andresen stand der junge Mann, den sie am Tag zuvor in Käptens Kajüte gesehen hatte. Er schien sich zu langweilen. Gedankenvoll rückte er mit der Vorlegegabel die Rollmöpse aus ihrer korrekten Lage, stupste die Makrelen an, bis von Reih und Glied keine Rede mehr sein konnte, und drehte einen Wolfsbarsch herum, sodass die Augen seines Nachbarn die Schwanzflosse anglotzten. Wolf Andresen würde, wenn er aus dem Polizeirevier zurückkehrte, viel zu tun haben.
Der junge Mann schrak zusammen, als die Türglocke schepperte. Dann lächelte er. »Ach, Sie sind es! Was darf’s sein?«
Mamma Carlotta nickte zu den Perlenschnüren. »Kann ich Frau Andresen kurz sprechen? Ich möchte mich noch mal bei ihr bedanken für ihre Hilfe.«
Er machte einen Schritt auf die Perlenschnüre zu und zerteilte sie. »Ulla? Besuch für dich!« Er starrte noch eine Weile in den Raum, dann fragte er: »Wie geht es Saskia?«
»Sie schläft jetzt.« Ulla Andresen erschien und schob ihn mit einer sanften Geste zur Seite. »Danke, Björn.«
Sie lächelte, als sie Mamma Carlotta erkannte. »Geht’s Ihnen besser?«
»Sì, alles ist wieder in Ordnung«, bestätigte Mamma Carlotta. »Grazie, dass Sie mir gestern geholfen haben. Wie ich schon sagte, ich komme aus Italia und das Klima hier …«
Ullas Lächeln vertiefte sich. »Sie sind nicht die Einzige, die Schwierigkeiten mit dem Reizklima hat.«
Björn verschwand in dem Raum hinter der Theke. »Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst.«
Ulla nickte. »Sie brauchen Fisch fürs Mittagessen?«
Mamma Carlotta ließ sich Zeit. »Ein paar Lachs-Steaks vielleicht. Ma no … besser noch wäre ein Seebarsch. Dann könnte ich Branzino in bianco machen. Oder Orata al forno? Dann brauche ich eine … wie sagt man … Goldbrasse.« Umständlich wählte sie aus und achtete darauf, das Gespräch mit Ulla Andresen in Gang zu halten. Zwischendurch sah sie sich um und blickte zur Tür, die sich währenddessen kein einziges Mal öffnete. »Es ist nicht viel los bei Ihnen, vero?«
Ulla nickte. »Hier ist nie was los. Auch in der Hauptsaison nicht. Mein Mann will es immer noch nicht einsehen, aber wenn die nächste Saison nichts einbringt, werden wir schließen müssen. Wir haben schon so viele Schulden, weitere dürfen nicht dazukommen.« Sie legte die Goldbrasse auf die Waage. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich sollte darüber nicht reden. Nicht mit den Kunden. Wenn mein Mann das wüsste …«
»Ich verrate ja nichts«, unterbrach Mamma Carlotta sie. »Jeder Mensch muss sich doch mal seine Sorgen von der Seele reden. Und von Frau zu Frau …« Sie brach ab und sah zu, wie Ulla Andresen den Fisch einwickelte. »Ich denke, ich sollte noch ein paar Sardellen mitnehmen«, erklärte sie. »Sardellen in grüner Soße sind ein köstliches Abendessen. Oder Kartoffelgratin mit Sardellen …?«
Ulla Andresen nickte und riss in das Sardellenangebot ein paar hässliche Lücken, statt sie in der Reihenfolge zu entnehmen, wie ihr Mann es getan hätte.
Wolf Andresens Blick fiel sofort auf die Unordnung in seinem Warenangebot, als er den Laden betrat. Er bedachte Mamma Carlotta mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich hoffe, Sie haben sich erholt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er hinter den Perlenschnüren, kam ohne Jacke wieder heraus, nahm seine Schürze vom Haken und seiner Frau die Vorlegegabel aus der Hand. »Ich mache das schon. Du kannst dich um Saskia kümmern.«
»Sie schläft. Hast du das
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