Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
im Erdgeschoss direkt neben dem Aufzug und im Souterrain in der mittleren Wohnung. Man wird Ihnen bestätigen, dass ich gegen halb sieben dort war.«
Erik machte sich Notizen. Dann erhob er sich, und Sören sprang so erfreut auf, als hätte er nicht damit gerechnet, noch vor Mitternacht Feierabend machen zu dürfen. Der Hauptkommissar selbst sorgte dafür, dass die beiden Kissen wieder in den Sofaecken standen, als hätte Andresen persönlich sie ausgerichtet. Der allerdings war trotzdem nicht zufrieden und zupfte im Vorübergehen die Spitzen zurecht, damit sie beide genau auf die äußere Kante des Sofas wiesen.
»Wir müssen morgen noch einmal vorbeikommen, das können wir Ihnen leider nicht ersparen«, sagte Erik zum Abschied. »Ich hoffe, den Besuch in der Nordseeklinik können Sie verschieben. Und sorgen Sie bitte auch dafür, dass Ihr Auslieferer zur Verfügung steht.«
»Björn Mende? Was wollen Sie denn von dem?«
»Es ist unsere Pflicht«, antwortete Erik freundlich, »mit allen Leuten zu reden, die Ihre Frau gekannt haben. Wir tappen ja noch völlig im Dunkeln. Also fangen wir mit den Ermittlungen im Umfeld des Opfers an.«
Es ging auf elf Uhr zu, als Erik und Sören wieder auf der menschenleeren Straße standen. Sören machte aus seiner Müdigkeit keinen Hehl mehr und gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen. Sein Apfelgesicht sah für Augenblicke so aus, als hätte jemand hineingebissen. »Fangen wir etwa morgen um acht an wie immer?«, fragte er misstrauisch.
»Um halb acht«, gab Erik barsch zurück. »Es ist viel zu tun. Zuallererst muss ich meinen Wagen in die Werkstatt bringen, damit der Scheibenwischer wieder anstandslos funktioniert. Und dann müssen wir uns in Ulla Andresens persönlichem Eigentum umsehen. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis. Und natürlich müssen wir mit Björn Mende reden. Mal sehen, wie der sich verhält. Ob er zugeben wird, dass er Ullas Liebhaber war?«
Carlotta Capella stellte fest, dass sie noch nie so allein gewesen war wie an diesem Abend. Die Uhr ging auf Mitternacht zu, im Hause herrschte Stille. Die Kinder schliefen natürlich längst, und auch sämtliche Nachbarn schienen sich zur Ruhe begeben zu haben. Nur bei den Kemmertöns drang noch schwaches Licht durch die Gardinen eines Fensters. Mamma Carlotta glaubte, dass es sich um das Schlafzimmer des Ehepaars Kemmertöns handelte. Das hinderte sie daran, an der Tür des Nachbarhauses zu klingeln und den Vorschlag zu machen, ein wenig zu plaudern. In ihrem Dorf wäre es selbstverständlich gewesen, mit einem Stuhl zur Nachbarin zu gehen, wenn man sich allein fühlte. Die hätte dann ebenfalls ihren Stuhl aus der Küche geholt, und gemeinsam hätte man sich vor die Haustür gesetzt, geplaudert und gehofft, dass eine dritte Nachbarin das Geplauder gehört und ihren Stuhl danebengestellt hätte.
Mamma Carlotta zog die Strickjacke eng um ihren Körper. Die Temperaturen auf Sylt waren es, die menschliche Annäherung behinderten oder sie sogar unmöglich machten. Aber die Sylter schienen sie auch nicht zu wollen. Die Türen, die sich geöffnet hatten, schlossen sich schnell wieder, außer einem »Moin« war selten etwas aus einem Sylter herauszubekommen. All das hatte Mamma Carlotta von Lucia erzählt bekommen. Aber Menschen, die allein in ihren Häusern saßen, weil draußen der Wind heulte und Tage und Nächte so kalt waren, dass niemand sich gern hinauswagte – das hatte Mamma Carlotta sich nicht vorstellen können.
Sie schrak zusammen, als jemand an den Fensterläden rüttelte, und atmete auf, als sie einsah, dass es der Wind gewesen war und kein Verbrecher, der die Schwiegermutter des Hauptkommissars entführen, entehren oder gar umbringen wollte. Wenn in Umbrien jemand nachts an den Fensterläden rüttelte, dann war es ein Nachbar, dessen Frau von den Wehen überrascht worden war, ein Tourist, der sich einen Spaß erlaubte, oder eine Verwandte, deren Sohn aus Rom oder Sizilien zu Besuch gekommen war, was auf dem Dorfplatz gefeiert werden sollte.
Wie pechschwarz die Nacht da draußen war! Die Äste des Kirschbaums schlugen vor dem Mond hin und her, sonst war nichts zu sehen. Mamma Carlotta beschloss, in allen Räumen Licht zu machen, in der Hoffnung, dass Diebe und Mörder von der Helligkeit abgeschreckt wurden. Als sie in die Küche trat, fuhr ein Auto vor. »Enrico! Endlich!«
Sie zog ihren Schwiegersohn über die Schwelle und drückte ihn an sich, als wäre er der einzige Überlebende einer
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