Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Schiffskatastrophe. Dann zog sie ihm die Jacke von den Schultern, hängte sie an die Garderobe, drängte Erik ins Wohnzimmer, schob ihm den Sessel zurecht und drückte ihn hinein. »Möchtest du ein Bier?«
Keinen Handgriff durfte Erik selber machen. Das Glück, nun vor Sylter Halsabschneidern in Sicherheit zu sein, machte Mamma Carlotta so glücklich, dass sie ihrem Schicksal danken wollte, indem sie ihren Schwiegersohn nach Kräften verwöhnte.
Erik ließ sich zurücksinken und schloss die Augen, als Mamma Carlotta in die Küche hastete, um das Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Lucia hatte auch immer auf ihn gewartet. Nie war sie schlafen gegangen, solange er noch nicht da war. Und auch sie hatte ihm, wenn er nach Hause kam, ein Bier hingestellt oder ihm einen Tee gekocht. Dann hatte sie ihn aufgefordert zu erzählen, was sich im Dienst zugetragen hatte. Er konnte sich alles Schreckliche von der Seele reden, was er gesehen hatte, den Ärger, den Überdruss und die Ungerechtigkeiten. Wenn er dann mit Lucia schlafen gegangen war, hatte er sich an sie geschmiegt und gewusst, dass er den nächsten Tag beginnen würde, ohne den letzten hinter sich herzuschleppen.
Er war dankbar, als Mamma Carlotta ihm sein Bier hinstellte, und hätte es ihr gerne gesagt. Aber er fürchtete sich vor der Rührung, die dieses Bekenntnis hervorrufen würde, vor den Erinnerungen und all dem, was diverse Mitglieder der Familie Capella zum Thema Dankbarkeit gesagt hatten. Also begnügte er sich mit einem schlichten »Danke«, setzte das Glas an und trank es zur Hälfte leer. »Genau das habe ich gebraucht.«
»Wurde wieder eine Frau ermordet, Enrico? Madonna! Was ist das nur für eine Insel, auf der ständig gemordet wird!«
Erik legte seiner Schwiegermutter umständlich dar, dass die Kriminalitätsrate auf Sylt ziemlich niedrig sei und Gewaltverbrechen ausgesprochen selten seien, aber Mamma Carlotta wollte davon nichts hören.
»Was ist nun? War es wieder eine Frau? Derselbe Mörder?«
Erik zuckte die Schultern. »Das weiß ich noch nicht.«
Er wollte eigentlich nichts erzählen, nichts preisgeben, nichts verraten, was in ihm noch nicht zur Klarheit gefunden hatte. Aber war ihm früher nicht manches gerade dann klar geworden, wenn er es vor Lucia ausgesprochen hatte? Hatte es nicht oft gereicht, in ihre Augen zu sehen, ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung zu erleben, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie der Fall zu lösen war?
Erik stellte fest, dass seine Schwiegermutter sich ebenfalls ein Bier einschenkte, obwohl sie doch Bier nicht besonders gern mochte. Sie wollte sich ihm also zugesellen. Indem sie trank, was er trank, wollte sie auch seine Gedanken teilen.
»Ja, eine Frau«, entgegnete Erik und sagte sich, dass Mamma Carlotta am nächsten Morgen sowieso davon in der Zeitung lesen würde. »Du kennst sie sogar.«
»Etwa Frau Kemmertöns?« Erleichtert atmete sie auf, als Erik den Kopf schüttelte. »Die Bäckersfrau? Eine der Kassiererinnen bei Feinkost Meyer? Die Kampener Friseurin? Die Schwester von Christa Kern oder ihre Putzfrau? Oder … oder etwa Ulla Andresen?«
Mamma Carlotta brauchte lange, um über den Schreck hinwegzukommen, über das Mitleid für das arme Kind, das nun mutterlos war, über die Anteilnahme für Ulla Andresen, die die Genesung ihres Kindes nicht mehr miterleben durfte, und über das Leben, das sie doch noch vor sich gehabt hatte. Den Täter hatte sie dagegen sehr schnell gefunden. »Das war ihr Mann, todsicher!«
»Welchen Grund sollte er haben?«, fragte Erik sanft. »Welches Motiv? Er hätte seinem Kind die Mutter genommen.«
Diesen Einwand fand Mamma Carlotta zwar stichhaltig, aber sie kam schnell zu der Überzeugung, dass Menschen wie Wolf Andresen kein Mitleid kannten, nicht einmal das Mitleid mit dem eigenen Kind. »Seine Frau verachtete ihn, und deshalb hat er sie umgebracht.«
»Woher weißt du, dass seine Frau ihn verachtete?«
Mamma Carlotta wurde schlagartig zu Anna Rocchi und erschrak zu Tode. Doch sie schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich habe einmal mit Frau Andresen geplaudert, das habe ich dir doch erzählt.«
»Aber warum sollte er sie umbringen? Wenn er mit ihr unglücklich war, hätte er sich scheiden lassen können.«
»Nein, er wollte Rache. Und er wollte das Kind für sich haben. Vielleicht hatte Ulla aber auch herausgefunden, dass er Christa Kern ermordet hat, und ihm gedroht, ihn anzuzeigen.«
Diesen Aspekt fand Erik bemerkenswert, aber er schüttelte
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