Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
»Ich hoffe, das ziehst du nicht an, wenn du mich das nächste Mal in Umbrien besuchst.«
»Das ist cool, Nonna!« Felix hängte sich seiner Großmutter völlig uncool an den Hals. »Was wirst du Andresen sagen, wenn er dich fragt, warum du heute nicht gekommen bist?«
»Der wird jetzt andere Sorgen haben«, warf Carolin ein. »Aber was ist, wenn Papa mit Anna Rocchi reden will?«
Mamma Carlotta zuckte hilflos die Schultern. Und wie immer, wenn die Hilflosigkeit sie übermannte, gab sie ihren Händen und ihrer Stimme etwas zu tun, die den Zustand der Hilflosigkeit nicht kannten. Sie ordnete Felix’ Haare und klagte über den Verlust seiner schönen dunklen Locken, die dem letzten radikalen Haarschnitt zum Opfer gefallen waren. Sie zupfte Carolin ein paar Strähnen aus den straff zusammengebundenen Haaren und rief: »Ecco, Carolina! So bist du noch hübscher!« Sie strich über die Wand und stellte fest, dass der Maler bestellt werden sollte. Anschließend zupfte sie noch eine vertrocknete Blüte von einem Alpenveilchen und verkündete ihren festen Vorsatz, sämtliche Blumen zu gießen, sobald die Kinder aus dem Haus seien. Erst dann antwortete sie: »Vielleicht geht ja doch noch alles gut. Euer Vater wartet auch diesmal wieder auf das Ergebnis des DNA -Tests, das hat er mir erzählt. Obwohl ich nicht weiß, was in diesem Fall getestet werden soll. Und wenn nach dem nächsten DNA -Test Andresen wieder nicht der Mörder sein soll, dann werde ich es wohl glauben müssen. Obwohl es mir schwerfällt!« Sie seufzte bühnengerecht und fuhr sich durch die Locken, als wollte sie den Regisseur bitten, dieselbe Szene noch einmal zu proben. »In dem Fall gebe ich die Arbeit bei ihm einfach auf. Ich werde ihm erklären, dass ich nach Italien zurück muss. Und er wird eurem Vater dann sagen, dass mit Anna Rocchi nicht mehr zu reden ist. Basta!«
Carolin strich ihrer Nonna zum Abschied über die Wange. »Am besten, du gehst ein wenig am Meer spazieren, das beruhigt.«
»So hat Mama es auch immer gemacht«, nickte Felix. »Du weißt doch, Nonna«, fügte er tapfer an, »am Meer hängen die Wolken tief. Da ist der Himmel ganz nah.«
Er schluckte, dann war er wieder der coole Typ, der nicht so aussah, als würde er jemals weinen oder mit seiner Nonna kuscheln. Carolin lächelte, wie eine Lehrerin einen unvernünftigen, aber durchaus liebenswerten Schüler anlächelt, dann sah Mamma Carlotta den beiden vom Fenster aus nach und dankte dem Himmel für diese wunderbaren Enkelkinder. Und da sie ebenfalls glaubte, dass der Himmel am Meer besonders nahe war, zog sie sich Eriks Jacke über und machte sich auf den Weg zum Strand.
Erik saß auf dem einzigen Stuhl in Ullas Zimmer, Sören hockte auf dem Heizkörper. Auf der Bettkante wäre es zwar bequemer gewesen, aber jeder Ermittler versuchte, wenn er in die Intimsphäre eines Opfers eindringen musste, eine gewisse Distanz zu wahren.
Sie hatten bisher nicht viel entdecken können. »Nichts, was auf ihre Beziehung zu Björn Mende schließen lässt«, stellte Sören fest.
»Kein Wunder«, gab Erik zurück. »Welche Ehefrau bewahrt schon etwas zu Hause auf, was ihren Seitensprung verrät?«
Sören, der ohne jede Eheerfahrung war, konnte dazu nichts beitragen. »Keine verräterischen Rechnungen«, jammerte er, »kein Tagebuch, auch keins von der Therapiegruppe. Vielleicht finden wir im Erdgeschoss etwas?«
»Sicherlich nichts, was sie vor ihrem Mann geheimhalten wollte. Und alles andere ist wahrscheinlich uninteressant für uns.« Erik griff zu einem Stapel alter Briefe, teilte ihn gewissenhaft in zwei Hälften und reichte Sören eine davon. »Lass uns die noch durchgehen. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis. Heute Nachmittag sehen wir uns dann im Erdgeschoss um.«
Sören nickte und begann lustlos zu blättern. »Briefe von ihren Eltern, Todes- und Geburtsanzeigen, Danksagungen mit Babyfotos, nur so familiäres Zeug.«
»Lesen Sie es trotzdem.«
»Es gibt nichts Langweiligeres«, stöhnte Sören, »als familiäre Post.« Er stöhnte noch einmal, aber als sich in Eriks Gesicht keine Spur von Mitleid zeigte, ergab er sich in sein Schicksal. Erst als Schritte auf der Treppe ertönten, legte er die Umschläge zur Seite.
Björn Mende trat ins Zimmer. »Herr Andresen hat gesagt, ich soll mich bei Ihnen melden.«
Sören sah seinen Chef fragend an, als der jedoch keine Anstalten machte, das Blatt, das er studierte, aus der Hand zu legen, begann er selbst mit der Befragung: »Sie haben
Weitere Kostenlose Bücher