Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
lassen, hatte sie einfachdie Wahrheit gesagt. Dass sie zu viel gearbeitet und sich überanstrengt hatte und an ihrem bisherigen Arbeitsplatz krank geworden war. Und das war noch die milde Version. Sie erwähnte nicht, wie schlecht es ihr gegangen war, so schlecht, dass sie fast zwei Jahre hatte zu Hause bleiben müssen. Der Mann im Ledersessel hatte sich geräuspert, die Wendung, die das Bewerbungsgespräch genommen hatte, erfüllte ihn offensichtlich mit Unbehagen. Er wechselte einen Blick mit seinem Kollegen, der die grüne Kaffeetasse mit dem Goldrand abstellte, bevor er sich an Sara wandte. »Wir melden uns bei dir, sobald eine Entscheidung gefallen ist.« Sara hatte sich höflich verabschiedet und schon beim Gehen gewusst, dass ihr Name nie auf eine Visitenkarte des Unternehmens gedruckt werden würde.
Das war es nicht wert. Das wusste sie jetzt sehr genau, aber hätte es ihr jemand begreiflich machen wollen, bevor das alles passiert war und bevor sie krank geworden war, sie hätte es nie verstanden. Stattdessen hätte sie das Ganze verdreht und wäre böse auf ihre Mitmenschen geworden, die nicht begriffen, wie viel sie zu tun hatte. Sie musste doch nur noch diesen Bericht abschließen und jene Besprechung hinter sich bringen, und dann war Wochenende. Das Problem war, dass die Arbeit nie aufhörte. Der Anspruch, den sie an sich stellte, war viel zu hoch. Sie kam nie hinterher. Und deshalb war eines Tages ihr Körper in den Streik getreten.
Sie musste wegen akuter Brustschmerzen ins Krankenhaus. Die Kollegen ignorierten ihre wütenden Proteste und fuhren sie ins Krankenhaus. Sara wusste noch, dass sie sich während des Wartens auf den Arzt weiter mit ihren Aufgaben beschäftigt hatte. Auf diese Weise verlor sie keine Zeit. Der Arzt hatte sie gründlich untersucht und ihr erklärt, dass die Brustschmerzen von einem Herzinfarktoder einer Lungenembolie herrühren konnten. Als eine Computertomographie zeigte, dass beides nicht der Fall war, hatte der Mediziner sein Augenmerk auf ihr überdrehtes Verhalten gelenkt. Sie verneinte Fragen, die ihre Kollegen beharrlich mit Ja beantworteten. Ob sie viel zu tun habe, ob sie ständig Überstunden mache, ob sie gestresst sei. Sie hatte versucht, ihm weiszumachen, dass es im Moment ein bisschen viel sei, es aber bald besser werde.
Sie wurde einen Monat krankgeschrieben. An den beiden ersten Tagen arbeitete sie von zu Hause aus und konnte einiges erledigen. Dass die Leute glaubten, sie wäre krank, war optimal, so konnte sie in Ruhe arbeiten. Aber da sie ja nicht im herkömmlichen Sinne »krank« war, hatte sie die Krankschreibung nach drei Tagen ignoriert und war wieder zur Arbeit gegangen.
Zwei Wochen später war Weihnachten. Während der ungewöhnlich langen Ferien in diesem Jahr war sie nun vollständig zusammengeklappt. Schwarze Sekunden, Minuten und Stunden, die sich allmählich zu angsterfüllten Wochen und Monaten ausweiteten. Lange, lange hatte sie sich durch die Dunkelheit gequält, bis sie endlich die Medikamente genommen und zu begreifen begonnen hatte, dass das Leben weitergehen und sie trotz allem überleben würde.
Sara stand vom Küchentisch auf und ging die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Linus hatte seine Decke weggestrampelt. Sara deckte ihn wieder zu.
Er murmelte: »Spiderman«, und drehte sich wieder um.
Linnéa lag genau in derselben Position wie beim Schlafengehen. Sara strich ihr über das lockige Haar.
Der alte Dielenboden knarrte, als sie hinüber zu ihrem und Tomas’ Schlafzimmer tappte.
Ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Es war zwar Freitagabend, und sie hatte das Wochenende vor sich, aber dann war wieder Montag. Wie sollte sie die nächste Woche schaffen? Die Krankenkasse verlangte von ihr, dass sie ihre Arbeitszeit ab Montag auf fünfzig Prozent steigerte, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie. Lange lag sie wach und dachte nach.
Karin hatte um 9:47 Uhr die Fähre nach Marstrandsön genommen und wartete nun unter der Silberpappel, dem alten Baum vor dem Rathaus. Johan war so nett gewesen, für sie ein Treffen mit dem Mann zu arrangieren, der »Rums-in-die-Bude« genannt wurde und sich so gut mit der Marstrander Geschichte auskennen sollte.
Sie trug feste Wanderschuhe. Im Rucksack hatte sie ihr Notizbuch, die Kamera und eine Windjacke. Sie hoffte nämlich, dass ihr Guide noch fit genug war, um mit ihr in den Felsen und auf den alten Pfaden herumzuklettern, man wusste ja nie. Vielleicht war er noch
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