Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
ganz rüstig. Sie war jedenfalls auf alles vorbereitet.
Als ein älterer Mann auf einem Lastenmoped aus Richtung Kirche die Långgatan hinauffuhr, reckte Karin den Hals, doch der Mann hob nur die Hand zum Gruß, fuhr an ihr vorbei und bog nach links in die Kvarngatan mit dem Kopfsteinpflaster ab. Karin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fünf nach zehn. Der Alte war spät dran.
»Hallöchen, ich bin dein Guide!«
Karin drehte sich um und sah Johan am Grand Hotel vorbei die Rådhusgatan hinaufspazieren.
»Was? Du?«, fragte sie verblüfft.
»Entschuldige, vielleicht war das kindisch von mir, aber ich konnte es nicht lassen. Du bist einfach davon ausgegangen, dass es sich um einen alten Mann handeln muss, und da habe ich eben mitgespielt. Wir haben tatsächlichauch ein paar junge Talente im Heimatverein, so an die drei, und wir senken den Altersdurchschnitt immerhin auf fünfundsiebzig. Sara von Langer gehört übrigens auch dazu. Ihr habt euch doch im Frühjahr bei diesem Weiberessen kennengelernt, meine ich mich zu erinnern.«
Nicht nur beim Weiberessen, dachte Karin. Sara hatte ihnen auch bei den Ermittlungen geholfen, die im Frühling gelaufen waren. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an die dramatischen Ereignisse dachte.
»Tut mir leid«, sagte Johan, »ich wollte dich nicht …«
»Schon okay.« Karin bemühte sich zu lächeln. »Und was soll dieses ›Rums-in-die-Bude‹?«
»Peinliche Geschichte, aber ich werd sie dir wohl erzählen müssen, denn sonst bekommst du Martins Version zu hören, und die ist garantiert schlimmer. Martin und ich sind ja hier aufgewachsen und haben schon als Kinder geangelt. Als wir größer wurden, durften wir den Fischer Ålefiskarn auf seinem Kutter begleiten. Er hatte sich gerade ein neues Schärenboot gekauft, auf das er mächtig stolz war.«
Karin wusste, wie die typischen Motorboote aus Marstrand aussahen. Sie hatten eine Kajüte und ein rundes Heck.
»Du hast doch auch ein Schärenboot?«, fragte Karin. Johan nickte.
»Martin und ich waren seit fünf Uhr morgens bei ihm an Bord gewesen und hatten uns den ganzen Tag gut benommen. Ålefiskarn wollte uns dafür belohnen, und deshalb durfte einer von uns das Boot zurückfahren, und der andere sollte im Hafen das Steuer übernehmen und an Ålefiskarns Bootsschuppen im Fiskehamnen anlegen. Martin fuhr, und ich durfte das Anlegemanöver machen. Ålefiskarn hatte es sich mit seiner Pfeife vorne auf dem Vordeck gemütlich gemacht. Ich fuhr unheimlich vorsichtig,aber in letzter Sekunde lief irgendwas schief, und ich gab versehentlich Vollgas. Wir krachten direkt in den Bootsschuppen, man hörte das Holz nur so splittern, und Ålefiskarn plumpste ins Wasser. Der Bug des Bootes war platt und der Kunststoff geborsten. Ich habe mich so geschämt. Ålefiskarn kletterte klitschnass auf den Steg und drehte sich zu mir um. Starr vor Schreck und zu Tode beschämt, stand ich da. Jetzt bekommst du die Standpauke deines Lebens zu hören, dachte ich. Aber Ålefiskarn zeigte nur auf seine Pfeife und sagte: »Das mit dem Anlegen musst du noch ein bisschen üben, mein Junge. Sonst kriege ich wieder einen Rums-in-die-Bude.«
Karin lachte.
»Rums-in-die-Bude bedeutet also mit Volldampf in den Bootsschuppen.«
»Hier draußen gibt es keinen Fischer, der die Geschichte nicht kennt und mich nicht so nennt, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Meine Eltern haben die Reparatur des Bootes bezahlt, und Ålefiskarn ließ mich tatsächlich noch öfter mitfahren. Vor zwei Jahren habe ich ihm das Boot abgekauft, und jetzt begleitet er mich.«
»Zum Aalfischen?«
»Nein, das macht er nicht mehr. Ålefiskarn war ohnehin eher ein Spitzname. Wir fischen Hummer zusammen. Bald startet übrigens die Saison. Der Fang beginnt immer am ersten Montag nach dem zwanzigsten September. Um sieben Uhr morgens. Du kannst gern mitkommen. Hast du mir jetzt eigentlich verziehen?«
»Ich werde es mir überlegen. Du kannst schon mal anfangen, mit deinen historischen Kenntnissen zu glänzen«, sagte Karin. »Sollen wir losgehen?«
»Wohin willst du zuerst?«, fragte Johan.
»Ich glaube, zur Grotte im Sankt-Eriks-Park. Dann würde ich gerne diesen Pfad zwischen der Grotte, demLotsenausguck und dem Opferstein langgehen, von dem du mir erzählt hast.«
»Okay«, erwiderte Johan.
Der Himmel war strahlend blau und die Luft klar und frisch. Typische Herbstluft. Der Wind hatte nachgelassen, und der Marstrandsfjord sah mit seinem glitzernden Wasser
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