Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
unglaublich einladend aus. Karin genoss die Atmosphäre, obwohl sie in gewisser Weise im Dienst war.
Åkerström, Trollhättan, Herbst 1958
Es war halb fünf am Morgen, als Birger einen kleinen Jungen auf der Straße sah. Er wollte gerade das Wasser für den Kaffee aufsetzen, stellte den Kessel jedoch wieder zur Seite und öffnete stattdessen die Haustür. Der Junge, den er da vor sich hatte, war klein und mager und viel zu dünn angezogen. Außerdem war seine Kleidung zerrissen. Die Augen lagen tief in seinem eingefallenen Gesicht, und an seinem rechten Ohr klebte getrocknetes Blut. Mit dem einen Arm schien etwas nicht zu stimmen, und als er näher kam, merkte Birger, dass der Junge nach Kot und Urin stank. Krampfhaft hielt er einen rostigen Spaten und einen Schraubenzieher ohne Griff umklammert.
»Wo kommst du denn her, kleiner Freund?« Der Mann sah sich um, als würde er davon ausgehen, dass der Junge von jemandem begleitet würde.
»Um Gottes willen, komm doch rein. Was ist passiert?«
Bevor der Junge Birger ins Haus folgte, blickte er sich um, als ob er verfolgt würde. Birger führte ihn zur Küchenbank und bedeutete ihm, sich hinzusetzen, während er nach seiner Frau rief.
»Aina, komm schnell her.« Er drehte sich wieder zu dem Jungen um. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Aina tauchte auf. Sie schnürte sich gerade die Schürze um den Bauch, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
»Mein liebes Kind, wie siehst du denn aus!«, rief sie entsetzt.
»Jetzt trinken wir erst mal einen Kaffee und frühstücken, und dann erzählst du uns alles«, sagte Birger und warf Aina einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Wie heißt du, mein Kind?«
»Weiß ich nicht«, wisperte der Junge. »Ich wohne im Keller.« Er hob den Blick nicht von den Bodenbrettern.
»Kannst du dich nicht erinnern?«, fragte Birger und stellte ihm einen Teller mit Butterbroten hin, die Aina geschmiert hatte.
Der Junge schüttelte den Kopf und nahm einen Bissen von dem Brot, das Birger ihm reichte. Gierig schlang er es hinunter und betrachtete dann sehnsüchtig den Teller.
»Lang doch zu. Eins musst du unbedingt noch nehmen. Iss so viele, wie du willst.«
Der Junge musterte ihn, bevor er sich zaghaft traute, die Hand auszustrecken und sich noch ein Butterbrot zu nehmen. Birger sah, dass er mit geschlossenen Augen aß. Er schien es zu genießen, und Birger konnte ihn verstehen. Ainas selbstgebackenes Brot mit einer dicken Schicht Butter und geräuchertem Schinken. Köstlich.
Aina hatte gerade den Kaffee eingeschenkt, als es an die Tür klopfte.
Die Rollenspieler waren aus dem Sankt-Eriks-Park verschwunden. Der Ort war still und friedlich, und als Karin hinter Johan am Gedenkstein von Widell vorbei und danachlinks den steilen Pfad hinaufging, war nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen zu hören. Eine Ansammlung von grauen Felsblöcken mit grünem Moosdach verbarg den Eingang zur Grotte.
Johan zeigte ihr den Weg, der zwischen den Steinen hindurch in die große Grotte führte. Karin ging hinein. Der Innenraum war schätzungsweise zehn Meter tief und vier Meter hoch. Der Eingang war so gut versteckt, dass ihn Spaziergänger vom Weg aus unter keinen Umständen entdecken konnten.
»Das ist ja irre«, sagte Karin.
Johan nickte.
»Man hat hier unten eine ganze Menge bearbeitete Feuersteine gefunden, und ich kann mir gut vorstellen, dass die ersten Siedler in dieser Grotte Schutz gesucht haben.«
Karin hörte zu. Johan zeigte auf einen der größeren Steinblöcke vor dem Eingang der Grotte.
»Die Kanzel«, sagte er. »1719 wurde Marstrand belagert, und einige Einwohner der Stadt flüchteten sich hierher. Pfarrer Björn Larson sprach von diesem Stein zu den verängstigten Menschen, daher der Name Kanzel. Die Grotte wird übrigens seither auch als Sankt-Eriks-Kirche bezeichnet. Es gibt auch noch eine kleinere Grotte gleich hier nebenan. Komm, ich zeig sie dir.« Johan deutete auf eine Vertiefung in der Felswand einige Meter entfernt von ihnen. »Diesmal war eine schwangere Frau mit dabei. Sie brachte in dieser Grotte einen Sohn zur Welt, und daher wird die Höhle seitdem Frau Arvidssons Schlafzimmer genannt. Ihr Sohn, Magnus Arvidsson, gehörte später zu den Gründern der Ostindischen Kompanie.«
»Ist das wahr?«, fragte Karin erstaunt.
»Bevor wir zum Opferstein und zum Opferhain gehen, fällt mir gerade noch etwas ein. Es gibt auch eine Opferquelle ganz hier in der Nähe. Willst du sie sehen?«
»Unbedingt!«, rief
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