Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Eternitplatten verkleidet waren.
»Man weiß ja nie, du engagierst dich schließlich auch im Heimatverein. Du könntest ebenso gut in der Kirche aktiv sein. Am Eingang stehen und die Liederzettel verteilen und so.«
»Das habe ich zwar tatsächlich schon mal gemacht, aber nur, weil der Pfarrer mich darum gebeten hat. Einer der Kirchenältesten war krank geworden.«
Sie beäugte ihn heimlich von der Seite. Es war lange her, dass sie sich in der Gesellschaft eines anderen Menschen so wohl gefühlt hatte. Er brachte sie zum Lachen, und es gefiel ihr, dass er sich für Geschichte interessierte. Er war etwas größer als sie und hatte blondes Haar, das die Sommersonne noch ein wenig aufgehellt hatte. Sein Gesicht und seine Arme waren braungebrannt, und auf seiner rechten Wange zeichnete sich ein Grübchen ab, wenn er lachte. Sie mochte sein Lachen, das nie lange auf sich warten ließ und so warmherzig und aufrichtig wie er selbst war. Oma würde ihn mögen, dachte sie, bevor sie wieder zur Besinnung kam. Jetzt reiß dich zusammen, sagte sie zu sich selbst.
Johans Geschrei riss sie aus ihren Gedanken.
»Hier ist das erste Zeichen!«
Karin rannte zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte. Sie war ungefähr fünfundsiebzig Meter vom Opferstein entfernt.
»Ist es ausgemalt?«, fragte sie verwundert.
»Scheint so«, antwortete Johan. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es beim letzten Mal so war, aber das ist auch schon länger her.«
Das Zeichen war mit einer Farbe ausgemalt, die an rot markierte Felszeichnungen erinnerte. Plötzlich wurde Karin eiskalt.
»Warte mal«, sagte sie. »Könntest du Georg anrufen und ihn fragen, wann dieses Zeichen ausgemalt wurde?Hier, nimm mein Handy.« Sie reichte ihm das Telefon und lauschte gespannt. An seinem Gesichtsausdruck merkte sie sofort, dass ihre Befürchtung zutraf.
»Nein, es dürfte nicht ausgemalt sein. Jedenfalls wusste Georg nichts davon.«
Karin beugte sich nach vorn und sah ganz genau hin, dann zog sie ihre Kamera aus der Tasche und machte ein paar Fotos.
»Was ist das denn?«, fragte Johan.
»Blut«, antwortete Karin. »Ich glaube, jemand hat das Zeichen mit Blut ausgemalt.«
Åkerström, Trollhättan, Herbst 1958
Birger hatte Kerstin und ihre Tochter Hjördis nie gemocht. Als er zum letzten Mal an diesem Tag aus dem Haus ging, um die Kühe zu melken, musste er wieder an den Jungen denken. Hatten sie oben bei Kerstin wirklich Besuch? Irgendwie fiel es ihm schwer, das zu glauben. Die Familie bestand aus Eigenbrötlern, und soweit er wusste, gab es keine Verwandten oder Freunde an einem anderen Ort. Hier in der Gegend auch nicht. Irgendetwas war faul an der Sache. Richtig faul.
Obwohl es schon nach zehn war, beschloss er, hoch zu dem Hof zu gehen. Da es am Abend ziemlich kalt geworden war, zog er warme Schuhe und eine dicke Jacke an. Aina sah seinen ernsten Blick und nickte.
Der Wind hatte aufgefrischt, und es lag Regen in der Luft. Zielstrebig näherte er sich der roten Hütte. Er schaute durchs Kellerfenster. Da unten war es dunkel. Dort konnte doch niemand leben, oder? Neben der Steintreppe mit dem schmiedeeisernen Geländer blühten Stockrosen und Lavendel. Die Äpfel an den drei
Bäumen waren schon rot. In der Küche brannte Licht, und aus dem Haus drangen laute Stimmen. Birger konnte Hjördis’ Eltern am Küchentisch sitzen sehen. Sie selbst ging auf und ab und ruderte mit den Armen. Ihr Vater hob die Stimme und sagte etwas zu ihr. Da blieb Hjördis stehen, ging zu ihrer Mutter, zog den einen Blusenärmel hoch und zeigte auf ihren Arm. Zu seinem Entsetzen sah Birger, dass die Hand und der Arm der alten Frau voller Kratzspuren waren. Der Junge, dachte er.
Mit drei Schritten rannte er die Treppe hinauf und hämmerte an die Tür. Die Stimmen dort drinnen verstummten jäh. Hjördis’ Vater öffnete die Tür.
»Ach, Birger«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
»Ist euer Besuch wieder weg?«, fragte Birger ohne Umschweife.
»Ja, die sind abgefahren.«
»Ein Glück, dass der Junge sich wieder angefunden hat.« Birger musterte den Mann, der vor ihm stand.
»Äh, ja. Danke für eure Hilfe. Grüß Aina von mir.«
Kerstin tauchte neben ihm auf.
»Was hast du denn mit deiner Hand gemacht, Kerstin?«, fragte Birger.
»Die Katze hat mich gekratzt.« Kerstin zog die Hand weg. Birgers dunkle Augen fixierten sie.
»Wo ist der Junge?«
»Verdammt noch mal, Birger …«, begann Hjördis’ Vater.
»Hol den Jungen … jetzt!« Birger sprach die Worte langsam
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