Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
einen Schrank und fand dort zwei Flaschen guten Rotwein. Vermutlich waren sie noch da, weil sie ihr zu edel erschienen, um sie ganz allein zu trinken. Zufrieden wählte sie eine aus und stellte sie auf die kleine Arbeitsfläche neben dem Spülbecken. Sie schenkte den Wein in zwei transparente Plastikbecher und reichte Johan den einen.
»Willkommen an Bord.«
Dann machten sie sich ans Kochen, und im gesamten Boot breitete sich ein herrlicher Duft aus. Um sieben Uhr setzten sie sich an den Tisch. Da es draußen zu dämmern begonnen hatte, zündete Karin die Petroleumlampe an, die über dem Tisch hing. Dann öffnete sie die zweite Flasche Wein.
»Danke für die Führung heute. Es war wahnsinnig interessant, und allein hätte ich das alles nicht herausgefunden. Schade nur, dass die Umstände so traurig sind«, sagte Karin.
»Ich habe mich zu bedanken, es hat mir Spaß gemacht.« Er stellte die ovale Schale mit den Mandarinen ab und lächelte sie an. »Viel Spaß sogar«, fügte er hinzu.
Karin spürte, dass ihre Wangen heiß wurden.
»Ich weiß gar nicht, was du beruflich machst«, sagte Karin plötzlich.
»Stimmt. Ist es nicht schön?«
»Was?«
»Dass wir so viele andere Gesprächsthemen hatten, dass wir gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, darüber zu reden. Bei den meisten Dates wird einem diese Frage doch zuerst gestellt.«
»Dann haben wir also ein Date. Das wusste ich ja noch gar nicht«, grinste Karin.
»Ich weiß es auch nicht genau, aber so langsam hoffe ich es.« Er griff nach ihrer Hand. Dann stand er auf, ging um den Tisch herum und setzte sich neben sie auf die Bank. Ganz nah. Er strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Du hast die schönsten Augen der Welt. Blaugrün wie das Meer, mit kleinen gelben Punkten.«
Ein Geräusch ließ Karin aufhorchen. Einen Augenblick später krachte es oben an Deck, wo offenbar jemand bei dem Versuch, an Deck zu kommen, zu Fall gekommen war. Karin traute ihren Ohren nicht, als sie die vertraute Stimme brüllen hörte:
… o du mein schönstes Frauenzimmer,
wie mir an deinem Dasein liegt!
Lieben werd ich dich für immer,
selbst wenn das Meer einmal versiegt! …
Karin öffnete die Luke und erblickte Göran, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte. In der Hand hielt er einenRiesenstrauß Rosen, auf denen er offenbar gelandet war. Lächelnd hielt er ihr die Reste hin, doch als er Johan entdeckte, erstarrten seine Gesichtszüge.
»Wir zwei sind verlobt«, sagte er zu Karin. »Hat sie dir erzählt, dass wir verlobt sind?« Die Frage war an Johan gerichtet.
»Hör jetzt auf, Göran.« Anscheinend musste sie noch einmal in Ruhe mit ihm reden, aber in seinem gegenwärtigen Zustand hatte es keinen Sinn.
»Willst du, dass ich …?« Johan zeigte auf den Steg.
»Nein, das will ich nicht«, antwortete Karin.
Im selben Augenblick kam Görans Faust auf ihn zu, doch Johan machte in letzter Sekunde einen Schritt zur Seite. Dies hatte zur Folge, dass Göran das Gleichgewicht verlor, über Bord ging und plumpsend im schwarzen Wasser landete, ohne wieder aufzutauchen.
»Scheiße«, sagte Johan, zog sich den Pullover über den Kopf und sprang hinterher. Das Meeresleuchten umgab die beiden Gestalten mit schimmernden Konturen. Einen Moment später gelangten sie wieder an die Oberfläche. Göran hustete.
Nachdem sie die beiden ins Cockpit gehievt und jedem ein Handtuch gereicht hatte, griff Karin nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Görans Freund Henke. Zehn Minuten später traf Henke mit noch einem Mann im Schlauchboot ein und holte Göran ab.
»Du musst ihm verzeihen, Karin. Seit ihr euch getrennt habt, ist er nicht mehr er selbst«, sagte Henke.
Stimmt, dachte Karin, und ich konnte nicht ich selbst sein, als wir noch zusammen waren.
»Karin«, sagte Göran. Mit seinen traurigen Augen sah er aus wie ein geprügelter Hund.
»Kümmere dich um ihn, Henke.« Karin blickte dem Schlauchboot hinterher.
5
Maria-Alberts-Krankenhaus, Trollhättan, Herbst
1958
Birger verbrachte die ganze Nacht am Bett des Jungen. Eine freundliche Krankenschwester hatte ihm einen bequemen Besuchersessel hingestellt, auf dem er unter normalen Umständen eingeschlafen wäre, aber dafür ging ihm viel zu viel durch den Kopf. Er betrachtete die kleine Kinderhand zwischen seinen eigenen schwieligen Fingern. Die Haut des Jungen war so hell, dass sie fast durchsichtig wirkte. Seine eigene war braungebrannt und an der Innenseite verhornt. Behutsam drückte er das
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