Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
Hedvig Strandberg hatte empört geäußert, das sei ja »ein starkes Stück«.
Als Karin und Robban gingen, standen die beiden Damen deutlich sichtbar am Fenster im Erdgeschoss und blickten ihnen hinterher.
»Wir hätten ihnen vielleicht von … du weißt schon … erzählen sollen …«, begann Hedvig Strandberg, die immer noch den Bleistift in der Hand hielt.
Frau Wilson drehte sich blitzschnell um und fixierte sie mit ihren grauen Augen.
»Wovon redest du, Hedvig?« Ohne die Antwort abzuwarten, machte Frau Wilson auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche.
Hedvig verlagerte sorgenvoll das Gewicht von einem Bein aufs andere.
»Nun … von …« Frau Wilson unterbrach ihr Gemurmel mit einer Stimme, die ihr wie eine scharfe Gartenschere das Wort abschnitt.
»Ich habe diese alte Geschichte so satt, meine Liebe, und außerdem kann sie ja unmöglich etwas mit dieser Sache zu tun haben.«
2
Åkerström, Trollhättan, Herbst 1958
Was hatte sich das Mädchen bloß dabei gedacht? Nicht genug damit, dass ihr Tunichtgut von Mann wegen Diebstahls im Gefängnis gelandet war, eines Tages hatte sie auch noch einen Bastard im Bauch. Natürlich hatte sie nichts gesagt, aber Kerstin wusste trotzdem, dass es so war. Der Junge hatte schließlich mit keinem von den anderen die geringste Ähnlichkeit und musste zustande gekommen sein, nachdem Örjan von der Polizei abgeholt worden war. Das hatte Kerstin genau ausgerechnet. Sie schüttelte den Kopf. Was würden die Leute dazu sagen?
Die Mädchen spielten im Hof, und Hjördis saß auf einem Hocker und schälte Kartoffeln. Ihr Kopf war nach vorn gebeugt, und die Haare verbargen teilweise ihr Gesicht. Sie sieht unzufrieden aus, dachte die Mutter, die das erste Kleidungsstück schüttelte und dann auf die Wäscheleine hängte. Es war wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen, als sie noch zu Hause wohnte, und somit eine Erleichterung, als sie heiratete und auszog. Die Nachbarn wunderten sich, dass sie einen so erfolgreichen Mann ergattert hatte. Einen Handelsvertreter. Hoffentlich würden sie nie erfahren, dass er ins Gefängnis gekommen war, weil er gestohlen hatte, und dass Hjördis deshalb wieder zu Hause wohnen musste. Witwe hörte sich besser an. Das war zwar keine gute Lösung, aber es gab keine bessere. Essen und Kleidung für drei Kinder. Sie hängte eine kleine graue Hose auf. Vier, wenn man den Unechten mitrechnete.
»Guck mal, Oma!«, rief das jüngste Mädchen. Kerstin nickte nur. Sie wendete den Blick von der Kleinen ab und ließ ihn zu dem schmutzigen Kellerfenster schweifen. Ein kleiner Junge aß wenig und war leicht zu verstecken. Ein größerer Junge brauchte mehr zu essen und noch mehr Platz. Früher oder später würde er die Kellertür selbst aufbekommen, und dann mochte Gott ihnen gnädig sein.
Kerstin hielt mit der Wäsche in der Hand inne. Es gab auch noch eine andere Möglichkeit. Man könnte ihn nach Norwegen auf diesen Hof schicken, wo Hjördis einige Sommer bei der Heuernte geholfen hatte. Das abgelegene Gut lag mitten in Telemark. Ferkel hatten die da auf dem flachen Land genug, aber eigene Kinder hatten der Bauer und seine Frau nie bekommen. Und kostenlose Arbeitskraft in Form von zwei zusätzlichen Händen, die mit anpackten, war immer willkommen. Diese Lösung würde allen zugutekommen.
Karin drehte sich um und betrachtete das Haus, das sie soeben verlassen hatten. Es war weiß und lag ganz dicht an der schmalen Straße, so dicht sogar, dass sich die Steinstufen zur Haustür eher auf der Straße als daneben befanden. Die zierlichen Sprossenfenster waren genauso alt wie die Kristallkaraffen mit den silbernen Henkeln, die auf der Fensterbank aufgereiht waren.
Karin ließ ihren Blick die Straße entlang bis zum höchsten Punkt des Hügels wandern. Die Schule von Marstrand lag ein paar Häuser weiter oben. Wenn man in die andere Richtung ging, kam man am alten Pfarrhof und am Spritzenhaus vorbei, bevor man den Kai und den Fähranleger erreichte. Das Wasser im Hafen glitzerte blau.
»Aufgekratzte Damen«, sagte Robban. »Was hältst du von einem Besuch in dem Park, den sie erwähnten?« Karin nickte.
»Vom Haus bis zur Fähre hinunter braucht man höchstens ein paar Minuten, falls der Täter diesen Weg gegangen ist. Auf der anderen Seite behalten sich die Menschen in kleinen Orten im Auge. Nicht wahr?« Karin sah Robban fragend an, während sie nach links in die Kyrkogatan abbogen und am Salon Cut & Clean vorbeikamen.
»Wenn man den
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