Die Tote im Badehaus
Dingen, an einem Punkt jenseits von Trauer und Schock und Entsetzen. Als würde ich auf der Galerie sitzen und zusehen, wie unter mir ein Kabuki-Drama seinen Lauf nimmt. Ich hatte Schwierigkeiten, den Theaterdialog zu verstehen, so wie ich die eigentliche Bedeutung von Captain Okuharas Worten nicht verstand. Verdächtigte er mich, etwas Falsches getan zu haben, vielleicht in Absprache mit Hugh?
Beim Abstieg durch den tiefen Schnee nahm ich die andere Strecke, die mit SCHWIERIG gekennzeichnet war. Der Weg war nur durch farbige Seile markiert, die an die Bäume gebunden waren. Als ich stehenblieb, um mir einen krummen alten Pflaumenbaum anzusehen, der schon Knospen bekam, hörte ich ein Knirschen im Schnee hinter mir. Es hörte abrupt auf und fing wieder an, als ich weiterging. Ich drehte mich um und sah eine große, schlanke, schwarzgekleidete Gestalt. Japanische Augen blickten mir aus einer wollenen Skimaske entgegen.
»Miss Shimura, verzeihen Sie mir. Diese Wälder sollen gefährlich sein. Es kann einem leicht etwas zustoßen.« Der Mann zog sich die Maske vom Gesicht, und ich erkannte Yamamoto, den jungen Assistenten von Mr. Nakamura und Hugh Glendinning.
»Sie sind mir den ganzen Weg auf den Berg gefolgt?« Ich war kurz davor, durchzudrehen.
»Ja, ich bin hinter einer Gruppe gelaufen, so daß Sie mich nicht sehen konnten.« Als der junge Mann näher kam, fiel mir auf, wie ernst er dreinblickte. Letzte Nacht hatte er die Glocke am Tempel mit viel Kraft geschlagen, mehr als nötig gewesen war. Unbehagen stieg in mir auf, ähnlich dem Gefühl, das ich in manchen Vierteln von San Francisco bekomme.
»Möchten Sie über irgend etwas mit mir sprechen?« Wahrscheinlich konnte er meine Angst riechen, wie ein Hund.
»Ja. Ich mache mir große Sorgen wegen der Nakamura-Sache«, flüsterte er, als könnte jemand mithören.
»Wie das?« Ich lehnte mich gegen den Pflaumenbaum und musterte ihn argwöhnisch.
»Nakamura-san ist in meinem Zimmer, weil die Polizei seines gerade durchsucht, ich weiß nicht, warum. Er ist sehr … verstört. Wie Sie sich vorstellen können.« Ein kurzes, nervöses, bellendes Lachen ließ mich an Hunde denken. »Hugh-san hat mit dem Präsidenten der Firma telefoniert. Er sagt, wir müssen die Sache klären, sonst werden wir gefeuert.«
»Ach was, so schlimm sind japanische Firmen auch wieder nicht«, sagte ich. Da seine Angst nun offensichtlich war, ließ meine nach.
»Es ist schrecklich für Sendai, es wäre eine Katastrophe, wenn …« Er hielt inne.
»Wenn was?« Er tat mir leid, aber ich war auch ungeduldig.
»Ein Selbstmord ist schon schlimm genug.«
»Was soll das heißen? Glauben Sie, sie hat sich absichtlich in den Schnee gelegt?« Ich war verblüfft.
»In Japan begehen viele Menschen an Silvester Selbstmord! Wußten Sie das nicht?« rief Yamamoto aus. »Wenn ein Mann bis zum Jahresende seine Rechnungen nicht bezahlen kann, ist ihm das äußerst peinlich. Manchmal bringt er sich um, damit seine Familie im neuen Jahr keine Probleme hat.«
»Aber ich dachte, die Nakamuras wären reich«, sagte ich.
»Wohlhabend? In Japan? Das ist niemand mehr. Mr. Nakamura ist ziemlich sparsam, aber in Japan verwaltet gewöhnlich die Frau die Haushaltskasse. Und Mrs. Nakamura hat gerne Kreditkarten benutzt.«
»Tut das nicht jeder?«
»Nicht so! Mrs. Nakamura war wie eine Besessene, hat immer im depaato eingekauft und – wie sagt man bei Ihnen – auf großem Fuß gelebt. Mr. Nakamura hat sich immer darüber beklagt. Er hat ihr die Kreditkarten weggenommen, aber sie hat es geschafft, sich wieder neue zu besorgen.«
Darüber mußte ich lächeln. »Offenbar wußte sie, wie sie sich ihre Macht erhält.«
»Genau. Sie verstehen.« Seine Augen wurden feucht. »Ich komme zu Ihnen, weil Sie eine Frau sind, und vielleicht können Sie dem Polizeichef etwas über das Wesen von Frauen erzählen, und wie die wahrscheinliche Geschichte war.«
Ich wurde mißtrauisch. »Ich soll der Polizei Informationen zuspielen? Wieso können Sie das nicht?«
»Ich arbeite für ihren Ehemann. Er würde mich sehr schnell feuern, wenn ich etwas über diese peinliche Sache sagen würde.«
Diese Befürchtung konnte ich verstehen. Trotzdem stand Yamamoto noch bevor, was Mrs. Chapman, Hugh und ich schon hinter uns hatten: dem unfreundlichen Polizeichef persönlich gegenüberzutreten und ihm zu erzählen, was er wußte. Yamamoto hatte einen entscheidenden Vorteil: Er war Japaner und männlich. Ich räusperte mich und
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