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Die Tote im Badehaus

Die Tote im Badehaus

Titel: Die Tote im Badehaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sujata Massey
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sagte: »Ich kann Ihre Geschichte nicht weitererzählen, Yamamoto-san. Okuhara stellt sicher alle möglichen Fragen über Uhrzeit und Datum, die ich nicht beantworten könnte.«
    Yamamoto starrte an meinem Kopf vorbei, als würden ihn plötzlich die hinter mir aufragenden Nadelbäume unheimlich faszinieren. Das nahm ich ihm nicht ab.
    »Sie wissen noch etwas, stimmt’s?« fragte ich.
    »Ich weiß nichts! Ich bin der Juniorassistent.«
    »Warum versuchen Sie dann, mir eine so lächerliche, klischeehafte Geschichte zu verkaufen?« Ich war so durcheinander, daß ich losplapperte, ohne vorher darüber nachzudenken, was ich sagte.
    Yamamoto trat einen Schritt zurück und hielt die Luft an. »Egal. Es tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe. Ich dachte, Sie wären eine yasashii-hito.« Er verwendete einen Ausdruck, der mit »unkomplizierter Mensch« übersetzt wird, eigentlich aber eher »nett« bedeutet.
    Ich kam mir gar nicht nett vor. Yamamoto und ich gingen schweigend bergab, bis wir zum Miyakawa-Fluß kamen. Er mußte zurück ins Minshuku Yogetsu, um sich um Mr. Nakamura zu kümmern. Ich lief weiter und folgte den Schildern zu einem Shinto-Schrein. Bald kam ich unter einem zinnoberroten Tor hindurch und stand inmitten von ein paar hundert Gläubigen. Die Männer waren dem Wetter angemessen in Daunenjacken, während die Frauen und Mädchen in kunstvollen Kimonos froren, über denen sie nur kurze Brokatjacken trugen. Zwei Teenager in steifen Baumwollkleidern, der Tracht der Schreinmädchen, winkten mich an ihren Souvenirstand. Ich schüttelte den Kopf, aber die Mädchen schauten so enttäuscht, daß ich mich schließlich erweichen ließ und das Billigste kaufte, was sie hatten: ein Papierorakel, das in englischer Sprache gedruckt war, für Touristen aus aller Herren Länder. Ich öffnete den kleinen orange-weißen Umschlag, um die zynische Botschaft zu lesen, daß mir AUSSERORDENTLICH VIEL GLÜCK zuteil werden würde.
    Das Orakel las sich wie eine Liste von Verhaltensmaßregeln. Krankheit: Es wird lange dauern, bis Sie wieder gesund sind. Glauben Sie an Gott. Arbeit: Sprechen Sie sofort mit Ihrem Arbeitgeber … Heiratsantrag: Heiraten Sie nur mit Einwilligung Ihrer Eltern. Ohne Interesse überflog ich den Zettel, bis ich bei folgendem Satz anlangte: Derjenige, der nur eine Seite hört, wird im Dunkeln bleiben. Derjenige, der alle Seiten anhört, ist im Bilde.
    Alle Seiten. Konnte das bedeuten, nicht einfach nachzuplappern, was Yamamoto mir weismachen wollte, oder hieß es, ich sollte ihm zuhören? Was hätten diese konfuzianischen Orakelschreiber in meinem speziellen Fall empfohlen?
    Ich verließ den Schrein und ging in Richtung des historischen Einkaufs- und Museumsviertels. Wegen des Feiertags hatten nur wenige Läden geöffnet. Obwohl ich heute nicht meine sonstige Leidenschaft fürs Einkaufen verspürte, beschloß ich doch, in einen Laden zu gehen, in dem Blau-Weiß-Porzellan verkauft wurde, nur damit ich nicht in das minshuku zurückmußte. Ich drückte mich in dem Laden herum und untersuchte alles, bis der Ladeninhaber schließlich ärgerlich wurde und mich hinauskomplimentierte. Wenn ich nur schauen wolle, die Museen seien morgen wieder geöffnet.
    In einem verstaubten kleinen Geschäft daneben war der Besitzer freundlicher. Ich wühlte in einer großen Teekiste mit allem möglichen Plunder und fischte ein kleines hölzernes Briefkästchen mit einem geometrischen Muster aus braunen und cremefarbenen Intarsien heraus. Die Metallteile ließen darauf schließen, daß es aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammte. Der rostige Verschluß ging nicht auf, aber als ich das Kästchen schüttelte, klapperte etwas. Was das wohl sein mochte, bei so einem außergewöhnlichen Kästchen: alte Münzen, oder vielleicht eine Schnitzerei aus Elfenbein?
    Bei den Verhandlungen um den Preis zog ich ein langes Gesicht, weil der Schlüssel fehlte; der Ladenbesitzer pries statt dessen die unbekannten Schätze im Inneren. Aber er hatte die Teekiste durchsucht, sich die Hände schmutzig gemacht, und er wollte etwas verkaufen, um das neue Jahr richtig zu beginnen. Zum Schluß war er bereit, mir tausend Yen vom ursprünglich geforderten Preis nachzulassen. Ich war einverstanden; sechstausend Yen, ungefähr fünfzig Dollar, waren ein anständiger Preis für etwas, das so alt war.
    Jedes japanische Restaurant in der Stadt schien wegen des Feiertags geschlossen zu haben. Wenn ich also nicht Sushi aus einem Supermarkt essen wollte –

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