Die Tote im Keller - Roman
in allem die Wahrheit? Sie beschloss, ihm auf den Zahn zu fühlen.
»Was steckte hinter den gestrigen Morden?«
Er senkte den Blick und malte mit dem Finger Striche in das Kondenswasser auf seinem Bierglas. Irene brach das Schweigen nicht, sondern sah ihn nur weiter auffordernd an. Sie erhoffte sich von ihm eine ehrliche Antwort. Es hatte nicht den Anschein, als wolle er sie ihr geben.
»Es gibt viele Gründe für diese Morde«, sagte er zögernd.
»Es geht also nicht nur um den missglückten Transfer zweier Mädchen von Schweden nach Teneriffa? Und auch nicht um Sergej Petrov«, stellte Irene fest.
Er schüttelte leicht den Kopf.
»Nein. Es geht um bedeutend mehr.«
»Und zwar?«, beharrte sie.
Er sah sie an und sagte dann langsam, jede Silbe betonend:
»Manchmal ist es ratsam, nicht alles zu wissen.«
In seiner Stimme schwang eine gewisse Schärfe mit, und Irene erkannte, dass es ihm bitter ernst war. Wieder breitete sich die Kälte in ihrem Körper aus und raubte ihr fast den Atem. Sie sah ein, dass er Recht hatte. Es war ratsam, nicht alles zu wissen. Streng genommen hatte das auch gar nichts mit ihrem eigenen Fall, dem Mord an Tanja, zu tun. Die Bandenmorde reichten viel weiter und betrafen die Policía Nacional. Nach ihrer Einschätzung würden sie den Fall wohl nicht lösen können. Aber das war nicht ihre Angelegenheit. Ihre Aufgabe war es, lebendig zu Hause anzukommen.
»Sie haben Recht. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Um sich keiner Gefahr auszusetzen?«
»Ja.«
»Bleiben Sie hier im Hotel. Verlassen Sie das Gebäude nicht. Essen Sie zeitig zu Abend und gehen Sie dann auf Ihr Zimmer. Öffnen Sie nicht, wenn es klopft. Sprechen Sie mit niemandem. Wer sich als Hotelgast oder Hotelpersonal ausgibt, muss es nicht unbedingt sein.«
Irene öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann wieder.
»Okay«, sagte sie nur.
Zum zweiten Mal während ihrer Unterhaltung lächelte er sein schönes Lächeln.
»Ich habe etwas, das ich Ihnen geben wollte.«
Er steckte eine Hand in die Tasche seiner engen Jeans. Mit triumphierender Miene überreichte er Irene ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
»Sergej Petrovs, alias Andres Tamms Buchung des Flugs von Teneriffa nach Skandinavien. Er ist früh am Donnerstag von hier abgeflogen und zwar direkt zum Flughafen Landvetter in Gota … Gothe …«
»Göteborg«, half ihm Irene auf die Sprünge.
»Danke. Offenbar gelang es ihm, noch einen Restplatz in einer der Chartermaschinen aufzutreiben. Die Rückreise hatte er für Freitagabend gebucht, mit der letzten Maschine vom Flughafen Kastrup in Kopenhagen. Und zwar zusammen mit Anne und Leili Tamm. Für alle drei ein einfacher Flug.«
Irenes Herz klopfte schneller. Deswegen waren Heinz Becker und Andres Tamm also trotz des Unwetters von Göteborg aus die Westküste entlang nach Süden gefahren. Sie hatten offenbar versucht, nach Kopenhagen zu gelangen. Obwohl alle Flüge wegen des Schneechaos eingestellt worden waren, wären sie an Ort und Stelle gewesen, um mit der erstbesten Maschine zu verschwinden.
Wer Leili war, wussten sie. Ihren Pass hatten sie gefunden. Und Anne war wohl Tanja gewesen. Ihr Pass war immer noch verschwunden.
Dass Heinz Becker aus Göteborg verschwunden war, hatte vermutlich daran gelegen, dass ihm dort nach der Razzia auf das Bordell in Biskopsgården der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war. Da er Leili an Andres übergeben hatte und Tanja tot war, besaß er keine Einnahmequelle mehr. Für ihn war die Zeit gekommen gewesen, ins Baltikum zurückzukehren, um neue Mädchen zu beschaffen. Es hatte also auch Becker ins Konzept gepasst, nach Kopenhagen zu fahren, um von dort aus seine Reise nach Deutschland fortzusetzen. Doch die konsumierten Drogen in Kombination mit dem fürchterlichen Unwetter hatten ihren Plänen ein definitives Ende bereitet. Das Mädchen Leili würde vielleicht auch nicht überleben.
»Danke. Das ist wirklich sehr freundlich …«, begann Irene, aber Rejón fiel ihr ins Wort.
»Keine Ursache. Ich wusste, dass es schwierig für Sie sein könnte, an diese Informationen zu gelangen. Es würde mich auch nicht wundern, wenn sie auf rätselhafte Weise bereits aus dem Computer verschwunden wären. Ein Absturz, menschliches Versagen, es gibt viele Möglichkeiten, Informationen verschwinden zu lassen, die man nicht preisgeben will.«
Er lächelte erneut und zog vielsagend die Brauen hoch. Irene nickte. Ihr war klar, dass ihr Rejón diese
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