Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
seiner Erkenntnisse nichts wert seien.
Der alte Arzt äugte hinter seiner Zeitung hervor. »Nun iss schon was!«, wiederholte er seine Aufforderung.
»Später«, nickte Julius knapp. »Sobald ich bei den Wittgens war.«
Die Zeitung sank herab, verdutzt blickte Doktor Hirschner ihn an. »Was willst du denn da?«
»Reden. Herausfinden, was das Mädchen an der Lahn verloren hatte.«
Der Alte wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. »Lass die armen Leute in Frieden, die haben genug Kummer. Überlass das der Polizey und dem Schultheiß.«
»Ach, ich soll die Angelegenheit Männern überlassen, die eine Wasserleiche nicht von einem Mordopfer unterscheiden können?« Er klang schärfer, als er beabsichtigt hatte, aber die Vorstellung, den Dingen ihren Lauf zu lassen, erschien ihm geradezu absurd.
»Du sollst nicht nur, du musst die Angelegenheit kompetenteren Männern überlassen«, gab Doktor Hirschner nicht minder scharf zurück. »Du wurdest bislang noch nicht einmal geprüft!«
»Ich wurde oft genug geprüft und für gut befunden, dass ich mir sicher bin, wie das Mädchen umgekommen ist.« Julius stand auf. Es war vertane Zeit, mit dem alten Doktor zu streiten. Er sollte lieber sehen, dass er mit den Wittgens sprach. Je eher er beweisen konnte, dass er recht hatte, desto eher hatte dieser Spuk ein Ende.
*
Die Herbstblumen lagen noch auf den Stufen, zertreten von unachtsamen Füßen und besudelt vom Straßenschlamm. Es schien sie niemand gesehen zu haben, oder vielleicht hatte sich auch nur niemand für sie interessiert. Die Menschen waren blind für Dinge, die ihnen unwichtig erschienen oder alltäglich. Alltäglich wie der Sonnen-Hans, der Junge aus dem Gasthaus am Markt, den jeder kannte und der doch für die meisten Augen unsichtbar war. Nicht, dass Hans das gestört hätte, im Gegenteil, er legte keinen Wert darauf, wahrgenommen zu werden. Meistens war er damit zufrieden, still seinen Aufgaben nachzukommen, Fässer und Vorräte zu schleppen und abends im Schankraum auszuhelfen. Er war froh, wenn man ihn nicht ansprach. Er hasste die zotigen Witze der Trunkenen, ihr dröhnendes Lachen, das jäh abbrach, wenn er aus Versehen etwas von ihrem Bier verschüttete. Er hasste den Pfeifentabak, dessen Brösel er am Morgen von den Tischen wischen musste, und er hasste den Rauch, der ihm im Hals kratzte. Da er unsichtbar war, konnte er verschwinden, wenn es ihm zu viel wurde. Inzwischen wusste er, wie lange er fort sein konnte, bis es seinem Vater auffiel. An manchen Abenden fiel es überhaupt nicht auf, wenn der Alte selbst bei den Gästen saß und redete, bis Gesicht und Nase glühten und die Zunge schwer war vom Wein. Das waren die Abende, an denen Hans sich beizeiten davon schlich, um sie zu sehen. Sie ruhte meistens schon, wenn er auf das Dach des Schuppens kletterte, um in ihr Fenster blicken zu können. Manchmal las sie auch oder bürstete ihr dunkles Haar aus, bis es wie ein seidenes Tuch über ihre Schultern fiel. Sie war die Einzige, bei der er sich wünschte, nicht unsichtbar zu sein.
Im Sommer hatte er begonnen, Blumen vor ihr Haus zu legen, bunte Blüten, jetzt im Herbst hingegen Zweige mit roten Beeren oder goldenem Laub, das im Sonnenlicht satt leuchtete. Mit Schrecken hatte er schon an den Winter gedacht und überlegt, was er dann noch finden könnte, um ihr eine Freude zu machen.
Doch das war nun überflüssig geworden. Die letzten Blumen lagen zertreten im Dreck, und Hans war, als würde eine eiserne Faust sämtliche Luft aus seinen Lungen drücken und sein Herz in ein Stück dumpfes Eisen verwandeln, während er in seinem Versteck hockte und mit brennenden Augen zu ihrem Haus hinüber starrte. Blumen im Winter würde es nicht mehr geben.
*
Der Ärger wühlte immer noch in Julius’ Brust, als er wenig später mit Rock und eilig zusammengeklaubter Tasche das Haus verließ. Er hatte lange geschlafen, stellte er fest, denn es herrschte mittlerweile reges Treiben auf der Wettergasse, die nun am Vormittag in satten Herbstfarben dalag. Hühner gackerten irgendwo in einem Hof, und ein junger Bursche in Holzschuhen schob rumpelnd einen Karren die Steigung hinauf. Nicht zum ersten Mal fiel Julius auf, wie dörflich Marburg war, vor allem nach den Jahren, die er in Köln und Paris verbracht hatte. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen zurückzukehren, und die Zeit in der Fremde hatte ihn zu stark verändert, um sich noch in das kleinstädtische Geschehen mit seinen bekannten Gesichtern und Bräuchen
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