Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
fröstelte in seinem Hemd, aber die Kälte half seinem Geist, zur Ruhe zu kommen und wieder klare Gedanken zu fassen. Was war nur mit ihm geschehen? Hatte ihm das Wolfsgeschwätz so zugesetzt, dass es ihn nachts heimsuchte, wenn er schlief und sich nicht wehren konnte? Oder war es diese Stadt mit ihren Erinnerungen und Geheimnissen, die ihn aus der Wirklichkeit riss?
Julius atmete tief durch, während sein Blick hinaus auf das nächtliche Lahntal ging, das sich schwarz und still vor ihm ausbreitete. Er musste herausfinden, was mit dem Mädchen geschehen war und Beweise vorlegen, die man nicht leugnen konnte, und wenn er danach Marburg für immer verlassen müsste.
Irgendwo dort draußen lagen die Antworten. Und er musste sie finden.
IV
Emilie Breuer mochte von sich selbst behaupten, ein geduldiger Mensch zu sein. Das Leben hatte sie Langmut gelehrt, zweimal schon hatte es sie bis an die Grenzen dessen getrieben, was ein Mensch ertragen konnte. Sie hatte lange gebraucht, um sich aus ihrer Trauer zu befreien und ins Leben zurückzukehren. Dass sie just in diesen Wochen Katharina Wittgen kennengelernt hatte, war ihr als Geschenk des Schicksals erschienen, eine kleine Wiedergutmachung für das erlittene Leid.
Sie waren keine Seelenverwandte, aber eine trauernde Witwe mit Hang zur Melancholie hätte Emilie nicht geholfen, die Füße wieder auf die Erde zu bekommen. Die junge, lebenslustige Frau hingegen, fast ein Jahrzehnt jünger als sie selbst, hatte ihr geholfen, wieder Lust am Leben zu finden. Da der Herr Regierungsadvocat Wittgen oft auf Reisen war, suchte auch Katharina Gesellschaft, die sie sich gegenseitig geben konnten. Es gab kaum ein Geheimnis zwischen ihnen, und obwohl Emilie Katharinas Lebenswandel nicht in allen Punkten gut hieß, öffnete sie sich unter dem Zuspruch der Freundin so weit, dass sie sich von Wachtmeister Schmitt den Hof machen ließ – nicht, weil sie ernsthaft in Erwägung zog, sich ein zweites Mal zu vermählen, sondern weil es ihr schmeichelte, dass ein Mann ihr Aufmerksamkeit schenkte. Ihr Gemahl hatte ihr ein mittleres Vermögen hinterlassen, sodass sie es sich erlauben konnte, allein zu bleiben, solange es ihr gefiel. Vielleicht würde sie auch anfangen, Gedichte zu schreiben, hatte sie sich schon überlegt, oder Romane, wenn die Winterabende zu einsam wurden. Andere alleinstehende Frauen taten das auch, und es gab ihnen die Aura von Gelehrten.
Heute gab es allerdings erst etwas zu klären, was ihr schon lange auf der Seele brannte, und dazu musste sie ihre Freundin Katharina aufsuchen, solange deren Gemahl unterwegs war. Sie hatten abgemacht, dass er nichts davon erfahren sollte, und Emilie hatte lange gewartet, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab.
Die muffelige Greta ließ sie wortlos ein; sie war es gewohnt, dass Emilie im Haus der Wittgens ein- und ausging. Gewöhnlich verlor sie kein Wort, sodass Emilie heute verwundert innehielt, als das Mädchen sie am Arm zurückhielt.
»Gehen Sie besser noch nicht hoch«, murmelte sie und zog die Hand zurück, als Emilie ihr einen verstimmten Blick zuwarf. »Da ist noch jemand oben.«
Fragend zog Emilie die Brauen hoch, aber das Dienstmädchen hatte sich schon abgewandt. Verwirrt stieg Emilie die Treppe hinauf zu den Wohnräumen. Eine bange Ahnung stieg in ihr auf. Katharina würde doch nicht … so kurz nach Helenes Tod …
Die Antwort fand sie schneller, als ihr lieb war, als ihr auf dem Absatz zum oberen Stockwerk ein junger Mann in der Tracht eines Studenten entgegenkam. Obwohl er den Blick abgewandt hielt und sich hastig an ihr vorbeidrängte, konnte sie erkennen, dass er ausgesprochen hübsch war, zwanzig Jahre vielleicht, kaum mehr, mit schwarzen Locken und einem sinnlichen Mund, wie ihn Katharina an Männern liebte.
Stumm wartete sie ab, bis die Schritte verklungen waren und das Schnappen der Haustür ihr anzeigte, dass er gegangen war. Dann machte sie sich auf den Weg zu Katharinas Schlafzimmer.
Frische Herbstluft strömte durch das offene Fenster hinein, doch noch nicht lang genug, um den Geruch nach dem, was hier gerade erst geschehen war, zu überdecken. Das Bett lag zerwühlt wie nach einem anstrengenden Kampf. Katharina selbst saß an ihrem Spiegeltisch, nur mit einem Nachtrock bekleidet, und bürstete die offenen Haare. Sie blickte erschrocken auf, als Emilie die Tür lauter als notwendig hinter sich ins Schloss zog.
»Ach, Mili, du bist es«, lächelte sie sichtlich erleichtert und fuhr fort, die Bürste in
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