Die Tote im Ritz - Ein Fall fuer Detective Joe Sandilands
heraus und studierte sie. Prüfte die Einzelheiten. Sah sogar auf ihre Uhr. Eine kleine Pantomime, dachte ich. Sie will ihre ehrlichen Absichten auf der Brücke unter Beweis stellen. Für eine Selbstmörderin war sie eine verdammt gute Schauspielerin, Sir.«
»O ja, genau das war sie auch. Und die Karte befand sich in ihrer Manteltasche, nicht in ihrer Handtasche?«
»Ja, Sir. Irgendwie … wie bereitgelegt. Dabei trug sie eine Handtasche am Arm.«
»Die Tasche wurde noch nicht gefunden.«
»Das ist auch nicht zu erwarten. Normalerweise werfen sie zuerst ihre Tasche hinunter und springen dann hinterher.«
»Großer Gott! Aber sagen Sie, haben Sie während Ihres Rundgangs auf der Brücke noch jemand anderen gesehen?«
»Niemanden, Sir. Ich war mir bewusst, dass auf der anderen Brückenseite einige Leute vorbeigingen, aber nichts Ungewöhnliches. Der 20-Uhr-45-Bus fuhr vorbei. Er hält nicht auf der Brücke, Sir. Es war gerade dunkel geworden und Nebel kam auf. Die Lichter wurden erst einige Minuten später eingeschaltet. Wenn man nicht gesehen werden wollte, wie man sich von der Brücke stürzte, dann war das der beste Zeitpunkt.«
Er sah Joe einen Augenblick nachdenklich an, fragte sich, ob er seinen Gedanken aussprechen sollte. Der Commander, oder was immer er war, sah zwar aus wie ein Varieteekünstler, aber er war souverän und interessiert und stellte die richtigen Fragen. Smedley wagte es. »Und es wäre auch ein guter Zeitpunkt gewesen, wenn man jemandem dabei hätte nachhelfen wollen, Sir.«
Minuten später kletterte Joe dankbar in eine Straßenbahn, die er zum Anhalten hatte bewegen können. Sie rasselte, auf dem Rückweg zum Depot, das Embankment entlang, und Joe schien der einzige Passagier zu sein. Der einsame Schaffner begann fröhlich ein Gespräch. »Ich werd’s nicht weitersagen, wenn Sie’s nicht weitersagen, Constable«, sagte er und tippte wie Armitage an seine Nase, um Verschwörerschaft anzudeuten.
Joe glaubte, den leichten Spott zu verstehen. Er grinste und sah auf sein geborgtes Regencape und die spitze Mütze, die ihm der Sergeant freundlicherweise überlassen hatte, als Joe ihm versprach, sie »nur einen Moment« zu brauchen.
»Schon gut, Kumpel«, flachste er zurück. »Die nächsten Meter muss ich nicht zu Fuß ablaufen. Sondereinsatz. ›Fahr er uns zum Yard. Und schone er die Pferde nicht!‹«
In übermütiger Stimmung wartete Joe, bis es ein Uhr schlug, bevor er Sir Nevil anrief.
»Hier Sandilands. Wir haben da ein kleines Problem, Sir.«
»Sandilands? Joe? Teufel, aber auch! Sie sollten doch außer Dienst sein!« Die Stimme klang verärgert, nicht verschlafen.
»Ich bin außer Dienst. Ich habe den Abend im Kit-Cat- Club verbracht, und jetzt sitze ich hier im Smoking, bis zum Anschlag voll mit Pol Roger, Jahrgang’21. Wenn Sie mich sehen könnten, würden Sie sagen:
Gilbert the filbert, the nut with a K,
The Pride of Piccadilly, the blasé roué.«
»Sie sind betrunken! Sie rufen mich zu dieser gottlosen Zeit an, um mir zu sagen, dass Sie angetrunken sind? Wo sind Sie?«
»Im Yard. In meinem Büro. Ich beende gerade einen Bericht für Sie.«
»Was machen Sie im Yard? Ich habe Ihnen doch gesagt …«
»Ich bin gekommen, um meinen Wagen zu holen. Den werde ich morgen brauchen, wenn ich wie befohlen nach Surrey fahre. Jemand hat allerdings Ausschau nach mir gehalten, und als ich hier eintraf, wurde ich von der Wasserschutzpolizei schanghait, die mich zu ihrer schrecklichen Höhle an der Waterloo Bridge eskortierte, um eine Ertrunkene zu identifizieren. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Audrey Blount.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, während Sir Nevil diese bunte Informationsmischung sortierte.
»Audrey war …«, fing Joe hilfreich an.
»Ich weiß, wer Audrey war. Ich bin mit dem Fall vertraut. Reißen Sie sich zusammen, wenn Sie können, und erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Joe teilte ihm die Einzelheiten mit, ermutigt von einem gelegentlichen »Und dann?« oder »Ts, ts, ts«.
Als er fertig war, meinte Sir Nevil mit schwerer Stimme: »Traurige Sache. Aber wissen Sie, Mutter Themse hat im Jahr mehr Mörder auf dem Gewissen als der staatliche Henker.«
»Mörder, Sir?«
»O ja. Reue und Angst treiben Sie dazu. Und jetzt … jetzt möchte ich Ihnen sagen, wie diese traurige Angelegenheit von den Mächten über uns gedeutet werden wird … Es wird ungefähr so gehen: Audrey hatte Streit mit ihrer Arbeitgeberin, folgte ihr
Weitere Kostenlose Bücher