Die tote Schwester - Kriminalroman
per Definition nicht als menschliche Wesen anerkannt worden waren und weil dies die meisten Mitbürger und ehemaligen Freunde von ihnen nicht sonderlich zu stören schien.
Im Gegenteil.
Julius Mendelstein, der Archivar im EL - DE -Haus, hatte Zbigniew die ganze Geschichte von Gideon Weissberg erzählt. Auch Calusius hatte sie im Ansatz gekannt, doch Mendelsteins Wissen ging weit darüber hinaus. Zbigniews Unglaube darüber, dass Mendelstein Gideon Weissbergs Lebensgeschichte fast präzise im Gedächtnis hatte, verschwand, als er begriff, dass jener sich sein ganzes Leben lang mit jüdischen Schicksalen im Zweiten Weltkrieg befasst hatte. Mendelstein hatte mehrere Bücher zu dem Thema veröffentlicht, darunter auch solche mit Augenzeugenberichten.
Er hatte es geschafft, vor Zbigniews geistigem Auge ein plastisches Bild des jüdischen Lebens in den dreißiger Jahren in Köln zu zeichnen. Er verschaffte ihm Zugang zu seinem Wissen, ohne Eitelkeit, ohne jeglichen Stolz. »Die Generation der Augenzeugen stirbt aus oder ist schon ausgestorben«, hatte er mit großer Traurigkeit im Blick gesagt. »Es ist wichtig, dass wir ihre Erinnerungen festhalten.«
Gideon Weissberg, Jahrgang 1900, war in einem gutbürgerlichen, deutsch-jüdischen Milieu großgeworden. In seiner Jugend gab es keine besonderen Grenzen zwischen Deutschen und Juden; auch wenn es in Teilen der Bevölkerung bereits eine latente Judenfeindlichkeit gab, lebten alle Religionen friedlich nebeneinander. Weissberg war kein orthodoxer Jude, er fühlte sich als Kölner und Deutscher. Er ging auf eine jüdisch-nichtjüdisch gemischte Schule, lernte nach dem Ersten Weltkrieg Bankkaufmann und wurde schließlich 1929 Leiter des Vereins Jüdischer Kaufleute. 1932 heiratete Gideon die nichtjüdische Anna Hansen, die 1912 in die reiche gleichnamige Kölner Industriellenfamilie hineingeboren worden war.
»Das war so eine Art Lebensversicherung später«, hatte Julius Mendelstein mit blitzenden Augen gesagt, »mit einer Nichtjüdin verheiratet zu sein. Die Nazis nannten es ›Mischehe‹. Also, ganz am Ende des Tausend jährigen Reichs, da hat das mit der ›Mischehe‹ auch nicht mehr geholfen, aber davor eine ziemlich lange Zeit.«
Zbigniew hatte gefragt, ob Juden dann nicht einfach Deutsche hätten heiraten können, um ihr Leben zu retten.
»Die Juden waren doch Deutsche«, hatte Julius Mendelstein mit einem Lächeln gesagt.
»Ich meine, nichtjüdische Deutsche«, verbesserte Zbigniew sich.
»Wo denken Sie hin. Eine solche Hochzeit war natürlich verboten, schon ab 1935. Bereits ohne Trauschein war eine solche Beziehung Rassenschande. Genau da ging es ja drum, das wunderbare deutsche Blut rein zu halten.«
Zbigniew nickte ein wenig irritiert, weil der Archivar das Wort »wunderbar« sehr seltsam betont hatte.
Mendelstein erzählte weiter, dass Gideon Weissberg in den ersten Jahren nach Hitlers Machtübernahme zunächst sein Leben mit Anna vermutlich wie gewohnt weiterführen konnte. Einige der damaligen Freunde und jüdischen Kölner Geschäftsleute emigrierten in dieser Phase rechtzeitig; dies wurde von den jüdischen Kulturorganisationen auch empfohlen und gefördert. Aber ein großer Teil der Juden blieb im Land – denn bei der Emigration musste man aufgrund der von den Nazis neueingeführten gesetzlichen Bestimmungen sein Vermögen weitgehend in Deutschland lassen. »Das Reichsfluchtsteuergesetz«, lächelte Mendelstein, »mit seiner Dego-Abgabe, einer praktischen Einrichtung. Schon 1936 musste man über 80 Prozent an die Deutsche Golddiskontbank abführen, wenn man Vermögen ins Ausland transferierte. Verstehen Sie, das war natürlich bei jeder Auswanderung so, dass Vermögen transferiert wurde. Und später galt das dann sogar für den Wert des Umzugsguts … Davor sind natürlich viele zurückgeschreckt. Abgesehen davon hatten viele auch einfach Vertrauen in Deutschland, hätten sich niemals vorstellen können, was hier später passierte. Und sind hiergeblieben, trotz allem.«
Dennoch schrumpfte der Verein Jüdischer Kaufleute. 1938 wurde er, wie alle anderen jüdischen Vereinigungen, verboten. Ab dieser Zeit wurden die in Köln gebliebenen Juden in sogenannten Judenhäusern kaserniert; Gideon Weissberg blieb dies aufgrund der ›Mischehe‹ erspart. Offenbar hatte er neben seinen Kontakten zur Familie Hansen auch einen engen, sehr wertvollen Freund – Paul Streithoff, Hausarzt der Reichen und Mächtigen in Köln, darunter einige hohe Nazis. Streithoff
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