Die tote Schwester - Kriminalroman
des städtischen Geldmangels kein Wasser führen durfte, da hatte sie ihn auf den Mund geküsst.
»Ich muss jetzt Timo abholen«, hatte sie gesagt.
Zbigniew hatte sich einen Moment lang gefragt, ob der mittlerweile 16-jährige Junge immer noch nicht allein von der Schule nach Hause gehen konnte.
»Danke für deine Hilfe«, hatte er geantwortet.
Sie hatte ihn angelächelt.
»Das ist doch selbstverständlich.«
Und dann hatte sie ihn geküsst.
Ein Abschiedskuss auf den Mund, flüchtig, mit geschlossenen Lippen, es hatte nichts zu bedeuten, es war bloß das Zeichen einer guten Freundschaft, und doch irritierte es Zbigniew.
Lena, vielleicht hatte sie es gesehen und würde sich daraufhin befreien.
Er wurde verrückt.
Wie benebelt war er auf direktem Weg zum EL - DE -Haus gegangen, so wie Calusius es ihm empfohlen hatte. Die Gedenkstätte war in der Tat bloß drei Fußminuten von der IHK entfernt – und vielleicht zehn Minuten von seiner eigenen Wohnung. Dennoch hatte Zbigniew das Museum, das im ehemaligen Gebäude der Geheimen Staatspolizei Köln untergebracht war, bislang noch nie bewusst wahrgenommen.
Unten, an der Pforte des EL - DE -Hauses, hatte eine ältere Dame gesessen, die ein Kreuzworträtsel löste. Vermutlich war sie so alt wie Samuel Weissberg, vielleicht ein paar Jahre jünger, dabei erstaunlich attraktiv.
Fast wortlos hatte er bei ihr eine Eintrittskarte gekauft. Er sollte hier mit einer bestimmten Person sprechen, doch zunächst wanderte er ziellos durch die vielen Ausstellungsräume, die die Gräueltaten des Naziregimes in allen Facetten erläuterten und bebilderten. Von zunehmender Abscheu erfüllt, formten sich in seinem Hirn die Dinge wieder, die er natürlich seit vielen Jahren kannte, die aber bislang nichts mit seiner Gegenwart zu tun hatten. Zbigniew war bislang einer jener Menschen gewesen, die im Fernsehen, wenn eine Dokumentation über das Dritte Reich ausgestrahlt wurde, immer lieber ein anderes Programm schauten. Weil es bequemer war. Und man ja schon in der Schule genügend darüber gehört hatte.
Außerdem hatte er selbst polnische Wurzeln, insoweit waren seine Vorfahren bestimmt eher Opfer als Täter.
Wie war das eigentlich damals gewesen in seiner eigenen Familie?
Zbigniew wurde bewusst, dass er über die Vergangenheit seiner Eltern kaum etwas wusste. Seine Mutter war tot, sein Vater lebte seit vielen Jahren in Südfrankreich, er hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Und wollte auch definitiv keinen haben.
Er machte, nachdem er die Ausstellung durchschritten hatte, einen kleinen Bogen um die ältere Dame an der Pforte. Sie hatte ihn kurz angelächelt, vermutlich aus Langeweile, weil gerade niemand eine Eintrittskarte kaufte. Zbigniew war noch nicht in der Stimmung, mit jemandem zu sprechen.
Er folgte stattdessen einem unscheinbaren Pfeil, der die Besucher eine Treppe hinunter in den Keller wies. Zbigniew erschauderte, als er begriff, was es hier zu sehen gab. Er befand sich in einem original erhaltenen Zellentrakt der Gestapo. Von einem engen, düster ausgeleuchteten Flur gingen winzige Räume ab, deren Wände übersät waren mit Kritzeleien – das, was die verzweifelten Häftlinge damals an die Wände geschrieben hatten. Die Zelleneingänge waren mit Glasscheiben abgesichert, doch große Wandtafeln im Flur zeigten das Geschriebene in Vergrößerung, einzelne Häftlingsschicksale wurden erläutert. Fast hoffte Zbigniew, einen bekannten Namen zu entdecken – Weissberg – , doch natürlich war er nicht dabei.
Zbigniew beeilte sich, den düsteren Gang zu verlassen. Nun betraten hinter ihm ein paar amerikanische Touristen mit expressivem Staunen das Kellergeschoss. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er bislang hier unten allein gewesen war.
Er wollte hochgehen, doch dann sah er eine winzige weitere Treppe, die in einen »Tiefkeller« führte. Nein, Zbigniew wollte nicht noch weiter hinuntergehen.
Und doch tat er es.
Die Faszination des Grauens hatte ihn gepackt.
Bald stand er vor einer Metalltür, die einen dahinterliegenden Bunker abtrennte. Ein Luftschutzbunker, nicht für die Häftlinge, sondern nur für die Gestapo-Beamten bei Fliegerangriffen. Eine Hinweistafel erläuterte die Entstehung des Bunkers – und erinnerte daran, dass hier Folterungen der Gestapo stattgefunden hatten, hier hinter der Metalltür, wo man die Schreie der Häftlinge in den benachbarten Wohnhäusern nicht hören konnte.
Es zog Zbigniew hinein in den Bunker. Eine Betondecke lag auf Metallträgern
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