Die tote Schwester - Kriminalroman
offiziell hingerichtet wurde, wie es sich gehört hätte«, blitzte Mendelstein ihn mit seinem seltsamen Lächeln an. »Nein, eine Gruppe überaktiver HJ -Kinder hat die Weissbergs einfach so erschossen. Auf irgendeinem abgelegenen Gehöft bei Schalkenmehren in der Eifel. Sie haben sicherlich schon von dem Ort gehört, es ist eine wunderschöne Gegend.«
Zbigniew nickte, obwohl er noch nie von einem Ort namens Schalkenmehren gehört hatte. Ein seltsamer Name. Zudem wusste er nicht so recht, wie er mit Mendelsteins Unterton umgehen sollte. Er befremdete ihn.
»Wissen Sie das Todesdatum?«, fragte er.
Mendelstein sah in einem Buch nach.
»Nein. Ich weiß, dass es 1943 war. Mehr steht hier auch nicht.«
»Und wissen Sie, was mit den Kindern, Samuel – ich meine, Heinrich – und Eva genau geschah?«, fragte er.
Mendelstein sah ihn irritiert an.
»Kindern? Also, Heinrich Weissberg konnte mit einer Gruppe von politischen Flüchtlingen 1943 über diverse Umwege in die USA fliehen. Das hat wohl besagter Paul Streithoff hinbekommen, der Arzt. Er hat vermutlich einigen Juden im Dritten Reich das Leben gerettet. Zumindest seinen ehemaligen Patienten, Westjuden … «
»Westjuden?«
»Die, die schon seit vielen Jahrzehnten in Köln lebten. Im Gegensatz zu den Ostjuden, die in den Jahren zuvor zum Beispiel aus Polen eingewandert waren, orthodoxe, traditionsbewusste Juden. Die träumten vom Land Israel, hatten nicht so viel Geld und waren den Westjuden am Anfang genauso fremd wie der arischen Bevölkerung.«
Zbigniew nickte. Erinnerungen an den Geschichtsunterricht an seiner alten Schule stiegen in ihm hoch. Der Linoleumgeruch in den Gängen des Siegburger Laudaneums. Mendelstein fuhr fort.
»Durch die Anfeindungen von außen wuchsen beide Gruppen natürlich zusammen. Sie müssen bedenken, schon 1933 riefen die Zeitungen auf, nicht mehr bei Juden zu kaufen, jüdische Händler zu boykottieren … Übrigens war die gute Kölner IHK einer der ganz bösen Spielführer bei diesem Judenhass … Da müssen Sie mal den Bekannten nach fragen, der Sie zu mir geschickt hat.«
»Und Eva Weissberg, die Tochter, was ist aus der geworden?«, fragte Zbigniew.
Ratlosigkeit im Blick von Mendelstein. Dann schüttelte er den Kopf.
»Von einer Tochter der Weissbergs habe ich noch nie gehört.«
»Nein? Es gab ein zweites Kind, Eva, die 1943 geboren sein müsste. Ich suche nach ihrem Verbleib.«
»1943?«, hatte Mendelstein mit Interesse gefragt. »Das ist mir neu. Ich will es nicht ausschließen. Aber 1943 … «
Zbigniew sah in seinen Augen, dass er Zweifel hatte. Die gleichen Zweifel, die auch Calusius gehabt hatte.
»Wenn ich es richtig in Erinnerung habe«, präzisierte Zbigniew, »dann wurde Eva heimlich geboren und auf einen Bauernhof in oder bei Büsdorf gebracht. Kurz vor der Flucht; Gideon und Anna Weissberg konnten das kleine Baby auf der Reise nicht mitnehmen.«
Mendelstein nickte.
»Das könnte schon eher Sinn machen. Vielleicht wäre es möglich.«
»Es wurde allerdings nach dem Krieg kein kleines Kind auf dem Bauernhof gefunden. Der wurde gegen Kriegsende zerstört. Und die anderen auf dem Bauernhof waren wohl tot.«
Mendelstein sah ihm in die Augen, nickte.
»Es gibt diese Geschichten. Ich muss Ihnen allerdings gleich sagen, dass man in solchen Fällen fast nie Erfolg hat, eine Person zu finden.«
»So war es dann auch, und sie wurde für tot erklärt.«
»Wurde professionell nach ihr gesucht, ich meine, wurden die Suchdienste eingeschaltet?«
»Ja, einer in München und noch ein anderer, in … «
»Bad Arolsen.«
»Genau.«
»Eigentlich geht das gar nicht beides. Aber je nun. – Liegt eine Geburtsurkunde vor?«
Zbigniew begriff nicht.
»Wie meinen Sie?«
»Nun ja. Normalerweise, wenn man jemanden für tot erklärt, muss er ja geboren sein, oder?«
Mendelstein lächelte. Zbigniew nickte, war verwirrt. Der Archivar fuhr fort:
»Also, es geht natürlich auch ohne, wenn das DRK -Gutachten vorliegt.«
» DRK -Gutachten?«
»Der Abschlussbericht des Suchdienstes.«
Zbigniew überlegte.
»Also, von 1943 kann es ja keine Geburtsurkunde geben. Dr. Calusius sagte, das sei in Köln alles zerstört worden.«
»Nein, nein«, sagte Mendelstein und lächelte. »Das ist eine Fehlinformation. Die Personenstandsarchive der Stadt Köln waren im Krieg ausgelagert, da ist alles erhalten geblieben. Die Daten der Standesämter, damals gab es in jedem Bezirk ein eigenes. Im Krieg zerstört wurden nur die Einwohner
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