Die tote Schwester - Kriminalroman
zurück. Er musste an das Bauernpaar in Geyen denken, das mit der Hofübernahme anscheinend sein Glück gefunden hatte.
Während des Essens sprang Tonia einmal auf, um eine arme alte Spaziergängerin vor dem Schaufenster zu befragen. Erfolglos.
War es nicht die Zeit, dass sie sich um ihren Sohn Timo kümmern musste? Oder hatte sie vorgesorgt, hatte sie bereits geahnt, dass sie den ganzen Tag mit Zbigniew verbringen würde?
Bei einem heißen türkischen Tee, den der Patron des Ladens kostenlos ausschenkte, erkundigte sich Zbigniew telefonisch bei Zeynel über den Fortgang der Ermittlungen. Offenbar waren im gesamten Bereich um die Bank herum extensive Zeugenbefragungen geführt worden, doch niemand hatte Lena und den Mann irgendwo hingehen sehen.
Zbigniew und Tonia verließen die Dönerbude, machten sich auf den Weg zum Auto. Eine gewisse Frustration, das Gefühl eines Scheiterns, einer Vergeblichkeit hatte sich breitgemacht.
»Warte mal«, sagte Tonia plötzlich. Sie war vor einem Haus stehen geblieben.
Zbigniew ging ein paar Schritte zurück. Tonia deutete auf ein Schild an der Wand. Die Praxis einer Hebamme.
»Meinst du, die praktiziert mit neunzig noch?«, fragte Zbigniew, aber als er es aussprach, war ihm bereits klar, dass es eine gute Idee war.
»Ich gehe da mal kurz rein«, sagte Tonia und klingelte an der Tür. Der Türöffner knackte. »Ist eh besser als Frau«, lächelte sie ihn an und verschwand. Die Tür fiel hinter ihr zu.
Zbigniew blieb einige Minuten auf dem Bürgersteig stehen, setzte sich schließlich auf eine Bank, die unter einigen Bäumen auf einem Grünstreifen in der Mitte der Straße stand.
Einer dieser Momente, in denen Lena geraucht hätte.
Er hätte ein Buch mitnehmen sollen.
Immerhin dauerte es nicht lange, bis Tonia zurückkam. Sie entdeckte ihn nach kurzem Umherschauen.
»Lass uns fahren«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Zehn Minuten später passierten sie das Tor zu einem Bauernhof aus hellgelbem Backstein. Wie in einem Gemälde aus vergangenen Zeiten stand dort eine alte, aber rüstig wirkende Bäuerin in einem Kittel und warf einigen frei laufenden Hühnern Körner zu.
Zbigniew schaltete den Motor ab, sie stiegen aus.
Die Bäuerin hielt inne, lächelte Zbigniew mit ihrem zerfurchten Gesicht freundlich an.
»Sie mag dich. Mach du«, flüsterte Tonia von der Seite.
Er wusste inzwischen, was er sagen würde. Von Befragung zu Befragung war er immer schneller zum Punkt gekommen.
»Guten Tag, mein Name ist Zbigniew Meier«, sagte er. »Ich bin im Auftrag einiger Verwandter auf der Suche nach einem jüdischen Säugling, der im Zweiten Weltkrieg eventuell heimlich in Stommeln untergebracht wurde.«
Bereits beim Sprechen bemerkte Zbigniew, dass diese Frau anders reagierte. Sie reagierte anders als alle anderen Menschen, die er zuvor befragt hatte.
Sie grinste.
Die Bäuerin grinste, warf ihren Hühnern noch ein paar Körner zu.
Dann begann sie zu sprechen, in einem rheinischen Dialekt, den Zbigniew zunächst kaum verstand.
»Kommen Sie herein«, sagte sie, »ich mache uns einen schönen heißen Kaffee.«
»Wissen Sie denn etwas darüber?«
»Kann schon sein. Das kann schon sein … «
Ihre Augen funkelten ihn an.
»Der jüdische Bastard.«
12
Die Dämmerung legte sich über Stommeln, als Zbigniew und Tonia das große Bauernhaus der alten Frau betraten. Offenbar wohnte sie hier alleine; beim Hineingehen erzählte sie, dass sie nur noch drei der Räume nutzte. Eine Dame vom Pflegedienst kam einmal am Tag vorbei, um nach ihr zu sehen und ihr bei den Hausarbeiten zu helfen. Zbigniew hatte das Gefühl, ihre halbe Lebensgeschichte zu kennen, bevor sie sich an den Tisch setzten.
»Die jungen Leute, es will ja keiner mehr auf dem Land wohnen und richtige Arbeit mit den Händen machen«, jammerte die alte Bäuerin.
Dann setzte sie einen Kaffee auf.
»Haben Sie keine Kinder?«, fragte Tonia.
»Doch, doch, sogar fünf. Aber die sind in der Weltgeschichte verstreut. Sie schicken mir Geld, ja, damit ich den Hof nicht verkaufen muss. Immerhin haben sie mich noch nicht ins Altersheim gesteckt, da habe ich mich durchgesetzt. Aber besuchen, nein, das können sie nicht. Manchmal hat Martin einen Termin in der Stadt, dann kann ich mit einem Taxi nach Köln fahren und ihn in diesem einen Café treffen. Sie wissen schon, das, wo man auf den Dom schauen kann. Aber für mich ist die Stadt nichts, nein, nein.«
Sie ließ in Ruhe den Kaffee durch eine altertümliche
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