Die tote Schwester - Kriminalroman
los.«
»Wir müssen alte Leute fragen.«
»Wen denn?«
»Niemand Bestimmtes. Einfach alte Leute. Von Dorf zu Dorf.«
Zbigniew sah sie kopfschüttelnd an.
»Das dauert doch Jahre, bis man da auf jemanden trifft, der etwas wissen könnte.«
»Nicht unbedingt. In einem Dorf weiß doch normalerweise jeder vom anderen. Und wenn da plötzlich ein neues Baby irgendwo auf einem Hof ist, dann reden die Leute doch darüber.«
»Ja, aber siebzig Jahre später?«
»Leben immer noch einige der Zeugen. Wenige, aber es gibt sie.«
»Aber wenn die Geschichte damals Dorfgespräch gewesen wäre, hätten die Nazis die Eltern wohl exekutiert.«
»Ja, vielleicht nicht Dorfgespräch. Eher unter der Hand. Oder vielleicht auch erst nach dem Krieg. Du kannst mir glauben, wenn da irgendwo ein Kind herkommt und die Leute das Gefühl haben, da stimmt was nicht, dann gibt es irgendwo ein Gerede.«
Die Leute.
Zbigniew überlegte.
»Wir müssen es ja nur in den Orten, die auf deiner Liste stehen, probieren«, konkretisierte Tonia. »Es kostet nicht viel mehr Zeit. Wir können ja die Damen auf der Liste trotzdem abklappern. Aber vorher oder nachher fragen wir in den Dörfern.«
»Auf der Straße?«
»Ja, warum nicht. Ich kann gleich hier anfangen. Schau, da drüben, der ist mindestens achtzig.«
Sie deutete auf einen alten Mann, der am Stock die Straße entlangging.
Zbigniew fand die Idee verrückt. Aber er hatte das Gefühl, dass er Tonia eine Chance geben sollte.
»Okay, aber die Leute fragst du.«
»Kein Problem. Ich mach’ so etwas gern.«
Sie sprang aus dem Wagen. Zbigniew beobachtete ihr Gespräch mit dem alten Mann. Kurz fragte er sich, ob er nicht doch Unterstützung leisten sollte, da kam sie schon zurück zum Auto.
Plötzlich hielt sie auf halbem Weg inne, Zbigniew folgte ihrem Blick.
In einem der Erdgeschossfenster an der Straße hing eine uralte Frau mit wirren grauen Haaren auf der Fensterbank, die Unterarme auf ein Kissen gestützt.
Tonia deutete ihm mit den Fingern, ging zu der Frau.
Zbigniew saß da, im Auto. Nun war es irgendwie zu spät, Tonia zu folgen. Sie zog das alleine durch.
Nach drei Minuten kam sie zurück.
»Und?«
»Fehlanzeige. Die Dame im Fenster weiß alles, was im Dorf in den letzten siebzig Jahren passiert ist. Und hat mir auch noch einiges über Katharina Esser erzählt. Mein Gott, wenn du wüsstest … «
»Was denn?«
Tonia grinste ihn an.
»Nichts, was mit deiner Suche zu tun hat. Katharina Esser ist definitiv nicht die Frau, die du suchst.«
Zbigniew fragte nicht nach, diese Schmach musste er nun hinnehmen, er, der Ungläubige.
»Nächster Ort?«, fragte Tonia unternehmungslustig.
»Gern. Was steht auf der Liste?«
»Sinsteden.«
»Das Städtchen der Sünde.«
Zbigniew legte den Gang ein und startete den Motor.
Sinsteden stellte sich als Reinfall heraus, ebenso wie die nächsten zwei Orte auf der Liste. Immerhin lagen die Dörfer hier im Westen von Köln so dicht beieinander, dass die Suche schneller vonstatten ging, als Zbigniew gedacht hatte.
Am frühen Nachmittag fuhren Zbigniew und Tonia zu dem kleinen Ort Stommeln in der Nähe von Pulheim. Hoch auf einem Hügel prangte eine schon weithin sichtbare Windmühle, ein Wegweiser wies zu einer ehemaligen Synagoge.
Vermutlich würde Zbigniew nun überall jüdische Spuren sehen. Spuren, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte.
Auch der Weg zum hübsch gelegenen Stommelner Kistenmacherhof war nicht von Erfolg gekrönt; weder das Kind, das 1943 hier geboren worden war, eine Christina Wetzell, noch irgendwelche Verwandte von ihr wohnten hier. Die jetzigen Besitzer des Hofs hatten das Gehöft erst in den siebziger Jahren erworben und den Namen Wetzell noch nie gehört.
Zbigniew hatte Hunger; sie beschlossen, etwas beim Italiener in der Dorfmitte essen zu gehen, doch dieser war zwischen 14 und 18 Uhr geschlossen. Als Kölner Altstadtbewohner hatte sich Zbigniew schnell daran gewöhnt, dass es derartige Einschränkungen in seinem Leben nicht mehr gab. Zwar lockte ein Chinese gegenüber der ehemaligen Synagoge mit durchgehenden Öffnungszeiten, aber Zbigniew hatte das Gefühl, dass er mal etwas anderes essen musste. Schließlich fanden Tonia und er noch einen türkischen Imbissbesitzer, der ihnen ein fleischähnliches Mittagsgericht von seinen Keulen abschabte.
»Man hat hier halt nicht so die Auswahl«, sagte Tonia lächelnd. »Dafür hat das Leben auf dem Land bestimmt andere Qualitäten.«
»Bestimmt«, lächelte Zbigniew
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