Die tote Stadt: Frankenstein 5: Roman (German Edition)
blieb stumm. Mr Lyss schweigen zu sehen war fast so hypnotisierend wie die Hände, die auf der Musik schwebten. Obendrein blieb er lange stumm, länger, als es in einer solchen Situation möglich erschien.
Schließlich sagte der alte Mann: »Deinesgleichen. Was bist du denn für einer? Kein Marsmensch, das weiß ich.«
»Ein Kommunitarist.«
»Und was könnte das wohl sein?«
»Nicht von Mann und Frau gezeugt«, sagte der Klavierspieler, und jetzt klangen die zarten Töne so traurig wie Nieselregen am offenen Grab in der Bestattungsszene eines Films, in dem gute Menschen starben, obwohl sie gut waren.
»Wenn nicht von Mann und Frau«, sagte der alte Mann, »wovon dann?«
»Von Labor und Computer, aus gentechnisch entwickeltem Fleisch in Verbindung mit Nervenbahnen aus Silikon, aus leblosen Materialien, die mit etwas programmiert worden sind, was vorgibt, Leben zu sein, und dann eingehender mit etwas programmiert, was Ähnlichkeit mit Bewusstsein aufweist, mit etwas, was den freien Willen imitiert, aber tatsächlich gehorsame Sklaverei ist. Aus dem Nichts zur Vorspiegelung von etwas und ... schließlich wieder ins Nichts.«
Diese Worte waren für Nummy, was seine eigenen Gesprächsbeiträge manchmal für Mr Lyss waren: Kauderwelsch. Und doch musste sein Herz einen Teil des Gesagten verstanden haben, obwohl sich sein Gehirn keinen Reim darauf machen konnte, denn ein großes Gefühl erfasste ihn und strömte in ihn hinein, ein so enormes Gefühl, dass es schien, als ließe es ihn anschwellen. Nummy konnte dem Gefühl keinen Namen geben, aber es war wie manchmal, wenn er durch eine Wiese mit Bäumen auf einer Seite lief, und plötzlich war zwischen den Bäumen eine Lücke, sodass er die Berge in der Ferne sehen konnte. Berge, die so groß waren, und doch hatte er vergessen, dass sie da waren. Berge, die so groß waren, dass ihre Gipfel eine Wolkenschicht durchstießen und über ihr wieder auftauchten. Berge, die so hoch und schön und seltsam waren, dass es ihm einen Moment lang den Atem verschlug. So ein Gefühl war das jetzt, aber viel, viel stärker.
Mr Lyss schwieg wieder, als erinnerte er sich an seine eigenen Berge.
Die traurige Musik spielte in der Stille weiter, und nach einer Weile sagte die Boze-Kopie: »Töten Sie mich.«
Mr Lyss sagte kein Wort.
»Haben Sie Erbarmen und töten Sie mich.«
Mr Lyss sagte: »Ich war nie ein Mann, der für seine Barmherzigkeit bekannt ist. Wenn du tot sein willst, dann musst du dich deiner schon selbst erbarmen.«
»Ich bin, was ich bin, und ich habe keine Barmherzigkeit in mir. Aber Sie sind ein Mensch und besitzen daher diese Eigenschaft.«
Nach einem weiteren Schweigen sagte Mr Lyss: »Wessen Labor?«
»Victors.«
»Victor. Und wie weiter?«
»Er nennt sich Victor Leben. Und Victor der Unbefleckte. Aber sein richtiger Name, auf den er stolz ist, lautet Frankenstein.«
Nummy kannte diesen Namen. Er erschauerte. Das waren Filme von der Sorte, die er sich nie ansah. Er hatte vor einigen Jahren einen Teil von einem solchen Film gesehen, den er eingeschaltet hatte, ohne zu wissen, was ihm bevorstand, und er war so außer sich geraten, dass Großmama ins Zimmer gekommen war, um nachzusehen, was dort nicht stimmte, und sie hatte den Fernseher ausgeschaltet. Sie hatte Nummy in ihre Arme gezogen, ihn eng an sich gedrückt, sein Leibgericht zum Abendessen gekocht und ihm immer wieder beteuert, nichts davon sei wahr, es sei nur eine Geschichte , genauso, wie eine nette und fröhliche Geschichte wie Wilbur und Charlotte nichts weiter als eine Geschichte war. Es war, was Großmama Dichtung nannte, und keine erdichtete Geschichte konnte jemals wahr sein.
Wenn die Boze-Kopie nicht log, dann irrte sich Groß mama. Sie hatte sich bisher noch nie in irgendeinem Punkt geirrt. In keinem einzigen. Die Möglichkeit, dass Großmama sich auch nur in einem einzigen Punkt geirrt haben könnte, war so verstörend, dass Nummy beschloss, nie mehr daran zu denken.
»Frankenstein? Hältst du mich für einen Trottel?«, fragte Mr Lyss, aber seine Stimme klang nicht wütend, nur neugierig.
»Nein. Sie haben gefragt. Ich habe es Ihnen gesagt. Es ist die Wahrheit.«
»Du hast gesagt, du seist ein gehorsamer Sklave. Du seist dazu gemacht worden. Weshalb solltest du ihn verraten?«
»Ich bin jetzt kaputt«, sagte die Boze-Kopie. »Als ich gesehen habe, was Bozeman in dem Moment dazwischen gesehen hat, ist etwas in mir kaputtgegangen. Ich bin wie ein Wagen, und der Motor läuft
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