Die Tote vom Johannisberg
Pianist.«
Ich ging ein paar Schritte in das Zimmer hinein und ließ meinen Blick über die Bücher und den Papierkram schweifen. Auf dem mittleren Regalbrett stand ein Notenband aufgeschlagen. Es wirkte, als solle es wie in einem Museum präsentiert werden.
»Wupper-Wellen«, las ich.
»Das ist ein Musikstück, das Regina manchmal gespielt hat. Es ist ein Walzer von Franz Lehár, dem großen Operettenkomponisten. Er hat irgendwann im vorigen Jahrhundert Wuppertal besucht und hier dieses Stück geschrieben.«
Die Noten waren gedruckt; links auf dem Titelblatt sah ich etwas Handschriftliches, das ich jedoch nicht entziffern konnte. »Das ist eine Widmung von Frau Else Cronen«, sagte Frau Mallberg, als müßte ich wissen, wer Else Cronen ist. Die Erklärung kam gleich hinterher. »Sie ist die Enkelin der Frau, für die Lehár das Stück komponiert hat. Eine alte Dame. Regina hat es ihr manchmal vor gespielt.«
Ich wandte mich dem Schreibtisch zu. Dort befand sich etwas, das gar nicht in diese altmodische Welt zu passen schien: ein Notebook.
»Ist der Computer auch von Ihrer Tochter?«
Frau Mallberg nickte. »Sie hat ihn sich selbst von ihrem Taschengeld zusammengespart. Und den Rest haben wir ihr dann zum Geburtstag dazugegeben. Mein Mann und ich verstehen ja nichts davon. Das ist eine andere Generation, wissen Sie. Aber sie hat viel damit gearbeitet. Ich glaube, sie hat ihn für ihr Studium gebraucht.« Sie seufzte. »Es ist, als würde sie jeden Moment wiederkommen.«
Neben dem Schreibtisch hing eine kleine Pinnwand, die bis auf ein einziges Foto völlig leer war. Die Schwarzweißaufnahme zeigte einen älteren Herrn, der mir bekannt vorkam.
»Das ist Professor Satorius«, erklärte Frau Mallberg.
Irgendwo unten im Haus schellte das Telefon.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, murmelte sie. Ich spürte ihre Verunsicherung. Sollte sie mich hier im Allerheiligsten allein lassen oder nicht? Unten klingelte es weiter. Ich machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Schließlich vertraute sie mir - jedoch nicht ohne Belehrung. »Ich bin gleich wieder da. Wie gesagt: Ich möchte Sie bitten, nichts anzurühren.«
Als Frau Mallberg außer Sichtweite war, begann ich routinemäßig, das Zimmer etwas genauer zu untersuchen. So schnell es ging, überprüfte ich den Inhalt des Regals. Im oberen Bereich waren die Papiere und Ordner untergebracht, weiter unten gab es gebundene Bücher - Lesestoff für eine Sechzehnjährige, aber nicht für eine Studentin von Ende zwanzig: »Das große Katzenbuch«, »Pferde und Freunde« und ähnliches. Sogar »Hanni und Nanni« begegnete mir.
Mit spitzen Fingern arbeitete ich mich durch den Papierkram im Bücherregal. Ich sah handschriftliche und gedruckte Noten. Zeitschriften. Handschriftliche Notizen. Wahrscheinlich Unterlagen aus dem Studium.
Im untersten Bereich des Regales gab es zwei Türen. Ich öffnete sie und stieß auf einige Stehordner, in denen etwas Buntes zu sehen war. Ich griff hinein. Offenbar hatte Regina hier etwas ganz Besonders aufbewahrt: Groschenhefte. Liebesromane. Verheißungsvolle Titel: »Mit dem Frühling kam das Glück.« »Endlich warst du da.« »Eine Liebe wie im Märchen.« Auf den Covers junge, weißzähnig lächelnde Frauen in bunten Kleidern, die Hand in Hand mit scheinbar guterzogenen Männern in ordentlichen Anzügen im Wald spazierengingen, in Booten oder auf Hollywood-Schaukeln saßen. Mindestens dreißig Hefte. Bevor ich mich darüber wundern konnte, daß eine Studentin der klassischen Musik so etwas offenbar in Massen las, fiel mein Name auf den Namen der Autorin, der in blaßrosa Buchstaben auf den Titelseiten stand. Es war natürlich ein Pseudonym, wie es bei solchen Kitschromanen üblich ist. In diesem Fall wußte ich aber, wer sich hinter dem falschen Namen verbarg. Die Autorin hieß in allen Fällen Regina Berg.
Ich packte zwei Hefte und stopfte sie in die Innentasche meines Jacketts. Es beulte etwas, aber es ging. Dann hob ich den Kopf und lauschte. Ich hörte Frau Mallberg unten sprechen. Ich sah mich weiter um. Zu gern hätte ich mir den Laptop unter den Nagel gerissen, doch ich konnte mir denken, daß Frau Mallberg damit nicht einverstanden sein würde.
Ich hob den kleinen Computer an und sah, daß er an ein externes Diskettenlaufwerk angeschlossen war, das sich dahinter befand. Und in diesem Laufwerk steckte eine Diskette. Ein Griff, und auch der Datenträger verschwand in meiner Tasche. Keine Sekunde zu früh. Plötzlich
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