Die Tote vom Johannisberg
Land oder einfach nur Spazierengehen wollten. Faltige Hände umgriffen fest wie Eisenzwingen Handtaschen aus Kunstleder und Blumensträuße in Papier. Mürrische Gesichter. Als ich ausstieg, kam ich mir vor wie ein Seemann, der nach einer längeren Reise wieder festen Boden betritt.
Luhnsfelder Höhe. Eine Gegend, so öde wie ihr Name. Irgendwann mußte das hier mal dörflich-heimelig gewesen sein. Man konnte weit sehen. Eine Weide. Dahinter wurde es hügelig. Noch weiter Richtung Horizont kam Bewegung in das Panorama: Auf der Schnellstraße schob sich ohne Unterlaß der Verkehr entlang.
Ich brauchte nicht lange nach dem Haus zu suchen. Es war das häßlichste der ganzen Straße.
Ein riesiges Schieferdach schien das zweigeschoßige Haus fast zu erdrücken. Mit diagonalen Eisenstreben vergitterte Fenster erweckten den Eindruck eines Mini-Knasts. Kleine Gauben schoben sich aus dem dunklen Dach hervor.
Der Vorgarten mit sauber geschnittenem Rasen und ordentlich in Fassung gehaltenen Lorbeerbüschen lag vor einer schweren, zweiflügligen Eingangstür. Als ich auf den Klingelknopf drückte, ertönte innen ein schnarrendes Geräusch.
Eine verhärmte Gestalt öffnete mir. Ein faltiges Gesicht, aus dem mich zwei blaßgraue Augen anblickten. Schmale Lippen. Falten auf der Stirn. Sie war tiefschwarz gekleidet. Die Haare hatten die Farbe von Asche. Sie waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Dutt verknüpft. Die Frisur erinnerte mich an meine Oma, die seit zwanzig Jahren tot war.
»Herr Rott?« Sie musterte meinen nachlässigen Aufzug.
Ich nickte, und sie bat mich herein.
Als ich das Haus betrat, kam es mir vor, als würde ich an einem schönen Sommertag in eine Gruft steigen. Der dicke dunkelrote Teppich in der großen Diele schluckte das Geräusch unserer Schritte. Ich sah schwere, fast schwarze Möbel vor einer dunkelgrauen Natursteinwand. Frau Mallberg öffnete eine gelbliche Glastür, die zum Wohnzimmer führte. Schrankwände, in denen penibel aufgestellte lederne Buchrücken prangten. Darüber Reihen von Ziertellern aus Zinn. Über der Sitzgruppe ragten Hirschgeweihe in den Raum. Daneben ein hölzernes Kruzifix - so groß wie ein Warndreieck. Weiter hinten im Raum stand etwas großes Schwarzes: ein Flügel. Auf der anderen Seite sah ich eine breite Glasfront, hinter der wahrscheinlich ein Garten lag. Friedhofssträucher versperrten die Sicht.
Frau Mallberg bat mit einer Geste Platz zu nehmen. Ich ließ mich auf einer ledernen Couch nieder. Die Kälte der Oberfläche drückte sich durch den Stoff meiner Hose. Frau Mallberg nahm ebenfalls Platz. Sie setzte sich kerzengerade, als habe sie einen Stock im Rücken.
»Bitte tun Sie mir einen Gefallen«, sagte sie. »Zeigen Sie mir Ihre Lizenz.«
Ich friemelte den Ausweis hervor. Frau Mallberg nahm die eingeschweißte Karte und starrte sie mindestens zwanzig Sekunden lang regungslos an. Ich sah mich währenddessen um. Mein Blick streifte ein paar Bücher in den Schrankwänden: »Meine Zeit als Hitlerjunge«, »Der Fall Stalingrad«, »Die großen Luftschlachten des Zweiten Weltkrieges«. Ich versuchte mir vorzustellen, daß das junge elegante Mädchen, das mich besucht hatte, hier aufgewachsen sein sollte. Es gelang mir nicht. Dann hatte Frau Mallberg die Überprüfung beendet.
»In Ordnung. Ich möchte Sie bitten, Ihre Schweigepflicht ernst zu nehmen und alles, worüber wir sprechen, vertraulich zu behandeln.«
»Das ist selbstverständlich.«
»Kommen wir gleich zur Sache. Ich fand Ihre Adresse in Reginas Manteltasche. Sehen Sie - hier.« Sie griff auf einen Stapel von Briefen und anderen Papieren, der auf dem Wohnzimmertisch lag, und zog einen kleinen Zettel heraus. In akkurater Handschrift stand meine Adresse darauf.
»Der Zettel kann noch nicht lange darin gewesen sein«, sagte Frau Mallberg. »Der Mantel kommt alle zwei Wochen in die Reinigung. Regina muß ihn also kurz vor ihrem Tod geschrieben und irgendwohin mitgenommen haben. Kannten Sie meine Tochter?«
»Kaum. Sie war kurz in meiner Detektei.«
Frau Mallberg wirkte nicht im geringsten überrascht. »Wissen Sie -mein Mann und ich, wir sind über die Ermittlungen der Polizei informiert«, erklärte sie. »Mein Mann bringt es jedoch nicht fertig, sich damit zu beschäftigen. Ich schon. Ich kenne die Aussagen der Leute, die am Abend im Publikum saßen - jedenfalls soweit die Polizei sie Zusammentragen konnte. Es sind noch nicht sehr viele. Ich habe das Wochenende damit verbracht, sie zu lesen. Und
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