Die Tote vom Johannisberg
sich das vor!« Wintershausen grinste. »Dabei kann man das ziemlich einfach haben.«
»Und wie?« fragte ich ein bißchen zu schnell.
»Man braucht bloß in eines unserer Konzerte zu kommen. Viele machen das auch. Seit langem sind wir wieder mal ausverkauft. Die Stadthalle hat eine Art makabre Popularität bekommen.«
Im historischen Hauptfoyer, durch das ich eben noch zum Aufzug gegangen war, standen jetzt riesige Pappkartons. An den Garderoben lehnten Stellwände und Holzlatten. Arbeiter trugen das Material durch den Haupteingang herein. Wir betraten den großen Saal. Ohne Publikum sah er noch größer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte.
Wintershausen deutete in Richtung der majestätischen Orgel. »Ich zeige Ihnen mal die Bühne«, sagte er und ging an einer Seitentreppe auf das Podium. Ich folgte ihm und stand nun genau an der Stelle, an der der Dirigent gestanden hatte, als das Unglück passierte. Ich blickte auf die leeren Stuhlreihen und versuchte den Platz zu finden, wo ich gesessen hatte. Ich sah zur Decke hinauf. Die Fläche war mit einer Art Wolke bemalt.
»Wo sind eigentlich genau die Scheinwerferschächte?« fragte ich.
»Der ›Todessturz von Wuppertal‹ läßt Sie wohl auch nicht los, was?« Er lachte. »Die Schächte sind im Moment nicht zu sehen. Die Scheinwerfer können aus der Decke ein Stück heruntergefahren werden. Dann entsteht dort oben eine Luke, durch die man vom Dachboden über dem großen Saal hinunterstürzen kann. Aber so einfach ist das auch wieder nicht.«
Ich ging ein wenig umher und tat so, als würden mich die Möglichkeiten der großen Bühne interessieren. »Was meinen Sie damit?« fragte ich nebenbei.
»Dort oben gibt es jede Menge Sicherheitsvorkehrungen. Man kann nur auf ganz bestimmten Brücken entlanggehen, die durch den Dachboden führen und die mit Geländern gesichert sind.«
»Brücken?«
»Na ja, metallene Gehsteige - etwa einen Meter breit. Auf der Decke selbst kann man nicht laufen, da gibt es eine gewisse Einsturzgefahr.«
»Aber die Verunglückte ist ja auch nicht durchgebrochen, sondern durch einen der Schächte gestürzt.«
»Ja. So war es wohl. Trotzdem ist der Stuck an den Rändern der Schächte etwas in Mitleidenschaft gezogen worden.«
Ich erinnerte mich an die weißen Brocken, die auf das Parkett gefallen waren.
»Ich habe gelesen, daß man gar nicht weiß, wie die Verunglückte überhaupt dort oben hinkam. Ist denn dieser Dachboden nicht abgeschlossen?«
»Natürlich. Die Öffentlichkeit kann dort nicht hin. Und die Frau gehörte ja nicht zum Personal. Allerdings wird dort oben ja gearbeitet, und da kann es schon einmal sein, daß die Türen kurze Zeit aufbleiben.«
Wer genau besitzt die Schlüssel, hätte ich am liebsten gefragt. Wintershausen schien meine Gedanken gelesen zu haben.
»Nur das technische Personal kann dort hinauf. Man muß schon von einer ganz klaren Absicht sprechen, wenn jemand von den offiziell zugänglichen Sälen aus dort hinaufgeht. Sie kann sich nicht dorthin verirrt haben, wenn sie eigentlich in den Konzertsaal wollte. Das ist völlig ausgeschlossen.«
»Andererseits ist es aber auch schwer, auf diese Weise einen Selbstmord zu planen. Wenn man vorher gar nicht wissen kann, wann der Dachboden, von dem man sich stürzen will, zugänglich ist.«
Wintershausen zuckte die Achseln. »Aber doch scheint sie sich umgebracht zu haben. Es ist ja auch ein Abschiedsbrief gefunden worden. Vielleicht hatte sie einen Nervenzusammenbruch oder so was. Ich bin kein Psychologe, aber wenn gerade ein Fenster dagewesen wäre, hätte sie sich in einer solchen Verfassung vermutlich auch da hinausgestürzt.«
»Man kommt doch sicher an vielen Fenstern vorbei - auf dem Weg zum Dachboden?«
»Sie lassen sich allerdings nicht so einfach öffnen.«
»Zeigen Sie mir die anderen Räume?«
»Am liebsten würden Sie auf den Dachboden hinauf steigen, stimmt’s? Sie können das ruhig zugeben. Ich habe in den letzten Tagen ein gutes Gespür für die Neugier meiner Besucher entwickelt, das können Sie mir glauben.«
Ich sagte nichts. Dafür redete Wintershausen unbekümmert weiter. »Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben«, sagte er, »ist, welchen Verband oder was auch immer Sie eigentlich vertreten.«
Ich lächelte. »Wenn ich Ihnen das verrate, zeigen Sie mir den Dachboden bestimmt nicht.«
Er blickte mich auffordernd an. »Woher wollen Sie das wissen? Sagen Sie schon.«
»Zeigen Sie mir den Raum dort oben trotzdem?«
Er nickte.
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