Die Tote vom Johannisberg
Einmal war ich bei einem Schulkonzert, bei dem Klavierstudenten vorgespielt haben. Regina war eine von den Mitwirkenden. Es war ein Stück, bei dem jemand neben dem Klavier sitzen und blättern mußte. Eine andere Studentin machte das, die Regina nicht leiden konnte. Sie hat bei dem Konzert einfach zu früh oder zu spät die Seiten umgewendet, so daß Regina schließlich den Faden verlor und aufhören mußte. Sie war so fertig deswegen, daß sie heulend das Podium verließ. Die andere hat nur mit den Schultern gezuckt und ist grinsend abgegangen. Eine Gemeinheit war das. Reginas Eltern waren auch da. Und stellen Sie sich vor … sie haben das Regina als Versagen ausgelegt und das Ausgehverbot noch verstärkt. Sie würde sich im Studium nicht genug anstrengen. Die hatten keine Ahnung. Sie konnte das Stück doch! Sie war eben nur nervös. Regina blieb nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben, ein bißchen zu üben und ein bißchen zu schreiben. Sie hat auch Romane geschrieben, wissen Sie. Ein paar sind auch gedruckt worden.«
»Ja, ich weiß. Stimmt es, daß sie Ihre Adresse benutzt hat, um die Geschäfte mit den Manuskripten nicht zu Hause abwickeln zu müssen?«
Sie nickte. Ich hatte geraten und voll ins Schwarze getroffen.
»Wie lief das genau?«
»Ganz einfach. Regina schickte ihre Manuskripte auf Diskette an den Verlag. Dann kamen die Schecks an mich. Von Zeit zu Zeit trafen wir uns, und ich gab sie ihr.«
»Und wieso haben Sie sich dann so lange nicht mehr gesehen?«
»Na ja - Regina hat seit einem Jahr nichts mehr geschrieben.«
»War das Romanschreiben eigentlich lukrativ?«
Sie nickte. »Ich denke schon. Für sie auf jeden Fall. Sie war ja noch auf ihren knickrigen Vater angewiesen, der ihr Taschengeld gab. Hundert Mark im Monat.«
Sie schwieg und starrte wieder auf die Tischdecke.
»Haben Sie eine persönliche Meinung dazu, was sie auf dem Dachboden der Stadthalle gewollt haben könnte?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Normalerweise hätte sie unten im Saal das Konzert hören sollen, oder nicht?«
»Glauben Sie an die Selbstmordtheorie?«
Sie überlegte. »Nein. Ehrlich gesagt nicht. Obwohl Regina sehr merkwürdig war, als wir uns das letzte Mal trafen.«
»Wissen Sie noch, wann das war?«
»Im Sommer. Vielleicht im Juli oder so. Es war warm. Es hatte aber nichts mit den Schecks zu tun. Ich sah sie zufällig in der Stadt.«
»Trotz Ausgehverbot war sie in der Stadt?«
»Es gab ein paar Dinge, für die sie das Haus natürlich verlassen durfte: Arztbesuche, Konzerte, ihr Studium. Da konnte sie auch manchmal ein bißchen tricksen.«
»Was meinen Sie damit, daß sie merkwürdig war?«
»Na ja - sie war unheimlich hektisch und schien mich kaum zu erkennen. Sie war sicher irgendwie mit den Nerven runter. Wir wechselten nur ein paar Worte. Wenn ich es mir jetzt so recht überlege - vielleicht hat sie sich ja doch umgebracht. Vielleicht hat sie einfach durchgedreht. Aber dann war sie wirklich krank. Dann hat sie es ganz spontan gemacht.«
»Aber der Abschiedsbrief?« wandte ich ein.
»ja stimmt. Daran habe ich jetzt nicht gedacht. Sie muß den Brief ja vorher in Ruhe geschrieben haben.«
»Wußten Sie, daß sie schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hat?«
»O ja. Das war nach Reginas Abitur.« Sie dachte nach. »Es muß 1989 gewesen sein. Die Sache wurde natürlich geheimgehalten. Die Eltern haben damals einen befreundeten Arzt gebeten, sie zu versorgen. Ein paar Tage später hatte Papa Mallberg mal wieder ein Geschäftsessen, und danach gab es zu Hause einen Empfang. Regina mußte eine Stunde lang Chopin spielen. Niemand hat sich gefragt, warum sie so lange Ärmel trug.« Birgit Jungholz’ Stimme klang verbittert.
»Wissen Sie den Namen des Arztes?«
»Hm - warten Sie mal. Der hatte so einen schwedischen Namen. Irgendwas mit ›son‹ am Ende. Robertson oder so ähnlich. Ich weiß aber, daß er im Klinikum Barmen arbeitete. Ich habe Regina dort besucht. Das war kurz bevor sie entlassen wurde.« Sie dachte nach. »Nein, ich komme nicht auf den Namen. Tut mir leid.«
»Wie hat sich eigentlich der damalige Selbstmord zugetragen? Ich meine, wie ist die Sache abgelaufen?«
»Sie hat es wohl spät in der Nacht getan. Sie hat sich im Bad eingeschlossen. Am nächsten Morgen wollte ihre Mutter sie wecken, aber ihr Bett war unberührt. Auf der Decke lag eine Nachricht.«
»Auch ein Abschiedsbrief?«
»Ja, genau. Sie haben dann gleich gemerkt, daß sie im Bad war,
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