Die Tote von Buckingham Palace
dürfte Olga bei den täglichen Mahlzeiten nicht entgangen sein, wie die anderen sie voll Mitleid, zugleich aber auch voll Unverständnis ansahen, weil sie nicht wusste, wie sie sich hätte wehren sollen.
Ein Frösteln überlief Elsa trotz des Sonnenscheins, der die Scheiben wärmte. Hatte sich etwa Olga zum Schluss doch gewehrt?
Nein. Der Gedanke war grotesk. Da Minnie auf die gleiche Weise getötet worden war wie die Prostituierte, musste ein Mann die Tat begangen haben. Andererseits, wenn Elsa auf den Gedanken verfallen konnte, dass man die Tat nachahmen könnte, warum dann nicht Olga oder sonst jemand? War es denkbar, dass sich eine Frau durch ihre Eifersucht zu dieser Art von wilder Blutrünstigkeit treiben ließ?
Hier aber ging es nicht einfach um Eifersucht oder darum, dass jemand einem anderen etwas nicht gönnte oder ihn hasste, weil er ihm etwas fortgenommen hatte. Nicht Liebe war der Grund für ihren Verlust gewesen: brünstiges Verlangen, alles verzehrende fleischliche Begierde, die sich über Einsicht und Ehrgefühl hinwegsetzte, hatten Simnel befallen wie eine Krankheit.
Die Triebfeder für die Tat mochte in erster Linie die Demütigung gewesen sein, die Zerstörung des Glaubens an sich selbst, wenn nicht gar an die Liebe. Einen schlimmeren Verrat gab es nicht. Wie weit war es von da bis zum Wahnsinn?
Doch bestimmt hatte Olga nicht auch die Prostituierte getötet. Da hatte in die Tat nichts Persönliches hineingespielt, es war dabei um etwas völlig anderes gegangen. Daraus, dass sich die Männer die Dirnen zur Unterhaltung in den Palast geholt hatten, durfte man nicht unbedingt schließen, dass diese ihnen darüber hinausgehende Dienste geleistet hatten, auch wenn diese Annahme durchaus nahelag.
Damit drängte sich der nächste Gedanke auf. Wenn Olga möglicherweise fähig gewesen wäre, aus Eifersucht und weil sie sich gedemütigt fühlte, zu töten, wie konnte Elsa dann die Vorstellung von sich weisen, dass auch Julius dazu imstande gewesen wäre? Ganz davon abgesehen, besaß er die dazu nötigen Körperkräfte. Immerhin war Minnie ziemlich groß und sicherlich auch stark gewesen. Olga war nicht annähernd so stark wie er; sie hätte ihren Vorteil in einem überraschenden Überfall suchen müssen.
Aber reichten Julius’ Empfindungen so tief, dass er eine solche
Tat begangen hätte? Elsa ahnte es nicht. Sie kannte sein Wesen, wie er es der Welt um ihn herum zeigte: höflich, umgänglich und von trockenem Humor. Er war ein Mensch, der anderen im Gespräch stets offen in die Augen sah. Zwar war ihr nur allzu bewusst, was sie mit leidenschaftlicher Intensität von ihm erhoffte und erträumte – doch was hatte das mit der Wirklichkeit zu tun? Wie sehr hatte sie sich in etwas hineingesteigert, was ausschließlich in ihrer eigenen Vorstellung existierte? Und galt das nicht auch für andere Menschen?
Man sieht leicht, was man unbedingt sehen möchte.
Was sah Julius in ihr? Wie hatte er Minnie eingeschätzt? Sicher hatte er irgendwann einmal angenommen, sie sei voll Wärme und Ergebenheit, bereit, über seine Fehler hinwegzusehen. Es war anzunehmen, dass er in ihr eine Frau gesehen hatte, die zu ihren Überzeugungen stand und einen inneren Wesenskern besaß, den sie sich ungetrübt und rein bewahrte.
Oder hatte es ihm möglicherweise genügt, dass sie schön und willig war?
Es klopfte. Da sie annahm, es sei Bartle, sagte sie ›Herein‹, ohne sich vom Fenster abzuwenden.
»Ich bedaure, Sie stören zu müssen, Mrs Dunkeld, aber es ist leider unvermeidlich.«
Sie fuhr herum und sah den Polizisten im Türrahmen stehen.
»Oh.« Sie sog die Luft scharf ein. »Gewiss. Soll ich zu Ihnen kommen?«
»Ja, bitte, wenn Sie die nötige Kraft aufbringen. Notfalls könnte Ihre Zofe Sie gewiss begleiten?«
»Danke, das schaffe ich wohl allein«, sagte sie und folgte ihm nach unten zu seinem Arbeitsraum. Da sie sich denken konnte, welche Fragen er ihr stellen würde, war es wohl besser, wenn Bartle nicht dabei war, denn sie kannte ihre Herrin zu gut. Sie nahm ihm gegenüber Platz.
Er bat im Voraus um Entschuldigung, ihr seelische Schmerzen zufügen zu müssen. Sie tat das ab. »Ihnen bleibt nichts anderes übrig«, sagte sie. »Der Täter muss ermittelt werden.«
Er nickte leicht. »Hat sich Mrs Sorokine gestern oder am Vortag Ihnen in irgendeiner Weise anvertraut, Mrs Dunkeld? Sie scheint in Bezug auf den Mord in der Wäschekammer einen starken Verdacht gehabt zu haben und hat in diesem Zusammenhang
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