Die Tote von Buckingham Palace
anderen verlassen. Bestimmt hat er auch diese Frau auf dem Gewissen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass die Angelegenheit noch vor der Rückkehr Ihrer Majestät so vollständig aufgeklärt worden ist. Ich bin Ihnen verbunden, Mr Pitt. Ich werde Ihnen das nicht vergessen. Danke, dass Sie gekommen sind, um es mir selbst zu sagen.«
Damit war Pitt entlassen. Es gab keine Möglichkeit mehr, etwas zu sagen, ohne aufsässig zu wirken, und das wäre unentschuldbar gewesen. Also dankte er dem Kronprinzen seinerseits und zog sich zurück.
Eine halbe Stunde später traf Narraway ein. Pitt führte ihn sofort zu Minnie Sorokines Leiche.
Bei ihrem Anblick wirkten Narraways finstere Züge zutiefst unglücklich. »Es sieht genauso aus wie bei der anderen«, sagte er kläglich. »Aber es gibt einen Unterschied! Die eine war eine Hure und die andere seine Frau.«
Pitt runzelte die Stirn. »Sie hat offen mit Simnel Marquand getändelt, Sorokines Halbbruder.«
Narraway sah ihn ungläubig an. »Und dabei soll das herausgekommen sein? Wollen Sie damit sagen, dass es sich um eine Art moralisches Urteil über Hurerei handelt?«
»Nein. Mrs Sorokine hat einen großen Teil des gestrigen Tages damit zugebracht, den Dienstboten verschiedene Fragen zu stellen«, teilte ihm Pitt mit. »Gracie ist ihr gefolgt und hat so einiges mitgehört. Es hatte wohl damit zu tun, dass in der Nacht des ersten Mordes Menschen im Palast hierhin und dorthin geeilt sind. Insbesondere ging es um zerbrochenes weißes Porzellan mit blauem und goldenem Dekor, von dem jeder, den man fragt, erklärt, er wisse nichts davon.«
»Was zum Teufel soll das alles, Pitt? Sie reden ja wirres Zeug.«
Es fiel Pitt schwer, sich zu beherrschen. Er war müde, er hatte Kopfschmerzen und fror mit einem Mal entsetzlich. Er fühlte sich von den Wänden des Palastes, an denen zahlreiche aufwendig gerahmte Kunstwerke hingen, eingeschlossen, kam sich vor wie in einer Falle.
»Ich weiß nicht«, sagte er unbeholfen. »Mrs Sorokine hat den ganzen Tag hindurch Fragen gestellt und schien mit den Antworten sehr zufrieden. Als Gracie dann Tyndale nach der Sache mit dem Porzellan gefragt hat, hat er sie ziemlich barsch mit der Aufforderung abgefertigt, das auf sich beruhen zu lassen, wenn sie nicht auf die Straße gesetzt werden wolle. Es gehe um ein privates Fehlverhalten des Kronprinzen und habe mit dem Mord an der Prostituierten nichts zu tun.«
Narraway sah ihn aufmerksam an. »In derselben Nacht?«, fragte er zweifelnd. »Da muss der Prinz ja alle Hände voll zu tun gehabt haben!«
»Bisher war ich der Ansicht, er sei mit einer der Dirnen so betrunken ins Bett gegangen, dass er bald darauf einschlief«, sagte Pitt. »Vielleicht hat es sich anders verhalten. Meinen Sie, wir müssen das genauer wissen?« Er hoffte aufrichtig, dass Narraway die Frage verneinte.
»Welche Rolle soll denn das zerbrochene Geschirr bei der ganzen Sache spielen?«, fragte Narraway. »Der Prinz hat Porzellan zerschlagen, na und?«
Ohne weiter auf Pitt zu achten, sah Narraway erneut auf die Leiche. »Das ist ein schrecklicher Schnitt durch die Kehle. Äußerst gewalttätig. Sieht ganz so aus, als wenn der Täter beinahe die Wirbelsäule durchtrennt hätte. Haben Sie das Messer schon gefunden?«
»Nein. Wir müssen das Zimmer durchsuchen.«
Narraway straffte sich ruckartig und entspannte sich sogleich wieder. »Na ja, falls er sich selbst umbringt, könnte das eine ganz gute Lösung sein. Wir dürfen ihn ohnehin nie wieder frei herumlaufen lassen. Aber Sie hätten sich trotzdem genauer umsehen
sollen. Jetzt müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir zu ihm hineingehen.«
Innerlich verwünschte sich Pitt, weil er nicht daran gedacht hatte, Sorokines Zimmer zu durchsuchen. Andererseits wäre es sicher nicht klug gewesen, das allein zu tun, während der Mann dort war. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und ging zusammen mit Narraway auf den Korridor hinaus.
Als sie in Sorokines Zimmer traten, lag dieser auf dem Bett und sah zur Decke empor. Er konnte weder seine Anspannung noch seine Angst verbergen. Die Kratzer auf seinem Gesicht waren deutlich zu sehen, weil das Blut inzwischen eingetrocknet war. Die Blutergüsse hoben sich dunkel von der Haut ab. Er setzte sich auf und sah die beiden an.
Narraway fragte: »Wo sind Ihre Kleidungsstücke von gestern Abend, Mr Sorokine?«
Sorokine blinzelte. »Mein Anzug hängt im Schrank, und mein
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