Die Tote von Buckingham Palace
durchgehen.«
»Wie Sie wollen. Aber nur ein einziges Mal. Dann müssen wir etwas unternehmen.«
Nachdem Gracie Pitts Zimmer verlassen hatte, kehrte sie an ihre Arbeit zurück. Gleich nach dem Frühstück machte sie sich mit Ada daran, die Zimmer der Gäste aufzuräumen und die Bettwäsche zu wechseln. Sie wollte unbedingt den einen Punkt aufklären, der ihre Neugier umso mehr erregte, je länger sie darüber nachdachte.
Seit sie im Palast war, hatte sie jeden Tag Cahoon Dunkelds Schlaf- und Ankleidezimmer hergerichtet, und schon eine ganze Weile fragte sie sich: Wo waren eigentlich die Bücher, die angeblich mitten in der Nacht in einer Kiste gekommen waren? In seinen Räumen sah man höchstens ein halbes Dutzend, und auch in den Zimmern der anderen Herren sowie in den gemeinschaftlich genutzten Räumen gab es nicht viel mehr.
»Wo nur all die Bücher sein mögen?«, fragte sie laut, während sie mit Ada im Salon Staub wischte.
»Woher soll ich das wissen?«, gab Ada empört zurück. »Vielleicht sin’ das die da. Ist doch unwichtig. Machen Se weiter.«
Gracie sah auf die Titel. »Nee, hier steh’n nur Gedichtbände und Romane«, sagte sie. »Und Geschichten über das Leben von wichtigen Leuten. Hier is’ eins über ’n Herzog von Wellington und eins über’n Premierminister Horace Walpole.«
»Und woher wollen Sie Schlauberger das wissen?«
»Weil’s auf ’m Umschlag steht«, gab Gracie zurück. »Oder mein’ Se, ich hab mir die Bilder angeseh’n?«
»Seit wann könn’ Se denn lesen?«
»Schon lange. Wieso? Sie etwa nich’?« Sie sah Ada an wie eine Figur aus dem Kuriositätenkabinett.
»Sei’n Se bloß nich’ so hochnäsig«, gab diese spitz zurück. »Sie halten sich hier nich’ lange. Sie taugen nix.«
»Ich möcht gern wissen, wo die Bücher sind«, kam Gracie auf ihre ursprüngliche Frage zurück. »Oder wollen Se damit sagen, dass Se’s nich’ wissen?«
»Natürlich weiß ich’s nich’!«, fauchte Ada sie an. »Aber im Unterschied zu Ihn’ weiß ich, wo ich hingehör’. Höchste Zeit, dass Ihn’ das mal jemand sagt, ich mach dann gern Ihre Arbeit. Am besten kümmern Se sich ab morgen um die Nachtgeschirre und so. Bei der Gelegenheit könn’ Se gleich auch die von Norah und Biddie mit übernehm’.«
Gracie begann sich zu fragen, ob die Kiste überhaupt Bücher enthalten hatte. Von Ada aber, das war ihr klar, durfte sie bei der Klärung dieser Frage keine Hilfe erwarten.
»So Schlauberger wie Sie«, sagte Ada, während sie den Nippes auf dem Kaminsims mit dem Staubwedel bearbeitete, »sollten besser nich’ so viele Fragen stellen. Immerhin war diese Mrs Sorokine, die Ihn’ so leid tut, ’n ziemliches Rabenaas. Nach außen hin immer die große Dame mit der Nase hoch in der Luft, aber wo’s d’rauf ankommt nich’ besser wie’n Flittchen, nur heimlich. Sie stellen genau so Fragen wie die. Wollen Se etwa auch, das se Ihn’ ’n Bauch aufschlitzen? Dabei is’ an Ihn’ nich’ ma’ was dran, was ’n Mann verrückt machen könnte, höchstens wenn er merkt, dass Se ’n reingelegt ha’m, weil er gemeint hat, Se wär’n ’ne Frau. Se sind so dürr, dass man Se in ’ne Streichholzschachtel stecken könnt’ – das wär überhaupt kein schlechter Gedanke.«
Die Kränkung schmerzte Gracie tief. Ihr war durchaus bewusst, dass sie klein und mager war und an ihr keine sonderlichen weibliche Rundungen zu sehen waren, und deshalb war ihr auch schleierhaft, was Samuel Tellman an ihr fand. Sie wusste nur, dass sie ursprünglich nichts mit ihm hatte zu tun haben wollen. Die Vorstellung, dass sie demnächst heiraten würden,
ängstigte sie, weil sie fürchtete, ihn entsetzlich zu enttäuschen. Aber davon würde Ada zum Glück nie etwas erfahren.
Aber halt, da hatte Ada doch etwas gesagt, was ihr bis dahin nicht bekannt gewesen war: auch Mrs Sorokine hatte sich für den Inhalt der Kiste interessiert. »Mein’ Se, man hat die deswegen umgebracht?«, fragte sie und zwang sich, nicht an Adas übrige Worte zu denken.
»Klar. Was sons’? Genau wie Sie hat se ihre Nase überall reingesteckt. Wenn Se nicht wollen, dass man Se auch kaltmacht, halten Se besser ’n Rand!«
»Ich mach jetzt mal die Schlafzimmer«, sagte Gracie betont beiläufig, nahm Staubwedel und Staubtuch und ging zur Tür. In Wahrheit wollte sie Mr Tyndale aufsuchen. Sie brauchte seine Unterstützung, und es gab keine Zeit zu verlieren. Sie wünschte jetzt, der Gedanke, dass die Kiste wichtig sein konnte,
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